6. Oktober 2010

Cave canem



Jenseits perfider Freuden vertrockeneter Lateinlehrerinnen, entbirgt dieser Sinnspruch, hinter der Fassade eines astreinen Imperatives versteckt, der dem wahren studiosus linguae Latinae nur ein müdes Gähnen abzuringen vermag, eine längst in Vergessenheit geratene Tugend: Das Maul weit aufreißend und Zähne fletschend, den Zustand der eigenen Betroffenheit und des Zuwehrsetzens kenntlich zu machen. Thematisch wird dadurch vor allem das Gefühl, dass eine imaginäre Grenze längst überschritten sei und man selber nicht länger bereit, daher wild an der Leine hin und herziehend, dies willenlos zu akzeptieren. Übersetzt in eine Lebensanschauung muss dies weder Freude an roher Gewaltausübung noch von dümmlichen Phrasen begleiteten Rebellion bedeuten.
Im echten Wortsinne sollte der kynismós im besten Falle eine Lebensform zum Ausdruck bringen, die durch die Kraft ihrer Hündigkeit befähigt, etablierte und unhinterfragte Gesellschaftnormen zu untergraben sogar bisweilen außer Kraft zu setzen, Erstarrung in Bewegung zu verwandeln vermag. Als eine authentischer Ausdruck versucht diese Lebensweise die eigene und oft von außen versagte Betroffenheit produktiv umzusetzen, indem sie in einer kritischen Reflexion Distanz zu gewinnen sucht. Jene Vernunft also, in der der Keim des zynischen Denkens zur vollen Reife kommt, die Desillusionierung und Demaskierung die Hand reicht, jedoch deshalb nicht gleich lebensverachtend sich gebärden muss, erscheint mir als ein erhaltenswertes Etwas, sodass ich euch laut zurufen will:
SEID BISSIG! oder latinisch ausgedrückt:  Motarces este!
Jedoch bitte, ohne gleich auf jede Sloterdijksche Finte reinzufallen!
Die Erfüllung dieses wunderschönen Imperativs würde nicht nur den vokabelverhangensten discipulus durch innerliche Aufwallungen zum Schwitzen bringen, sondern auch der Lateinlehrerin die üppige Restfeuchte in die Augen treiben.