21. Oktober 2011

Καιρός

Endlich bezwungen von Dir, oh Kairos, bin ich! Und habe, von Deinem Schopfe, den ich gerade noch rechtzeitig ergriff, - zwei Sitzungen hatte ich schon verpasst - mitgerissen, nun endlich dasjenige begonnen, was ich mir seit Jahren vorgenommen habe und zu dem ich nie kam. Seit ich meinen Namen in die Teilnehmerliste eintrug - die Gesichter zwar nicht unwesentlich jünger als meins, einige eindeutig älter, mancher weißhaarig, meine Matrikelnummer jedoch die viertälteste auf der Liste - ist es amtlich: Ich lerne endlich Altgriechisch und zwar zwischen durch Studienordnungen der Altertumswissenschaften und Klassischen Philologien dazu Verpflichteten und einer Handvoll Gasthöher. In raschem Tempo geht es voran, werden Deklinationen und erste Konjugationen abgeprüft, Akzente und Betonungen korrigiert, vorsokratische Lehrsätze vorgetragen und übersetzt. Schnell ist die Sitzung vorbei, das Lernpensum groß, die Studierenden vom Stoff gar erschlagen. 
Ganz freiwillig fertige ich zuhause Karteikarten mit neuestem Vokabular an und übe mich im Vortrag der mir noch so unvertrauten Sprache. Eine neue, wieder mal freiwillig auserwählte, intellektuelle Herausforderung, dabei hatte ich geglaubt, alles was zu wissen sei, hätte ich längst abgeschöpft, denke ich mir, während ich jene neuartigen Buchstaben in konzentrierter Schreibschrift mit verkrampften Fingern zwischen die Hilflinien in einem Schreibheft für Erstklässler mit kleinen Verzögerungen zu Papier bringe.

14. Oktober 2011

Bis auf den letzten Euro

Erstaunlich wie sehr sich die eigene Einstellung zum Geld verändert. Habe ich vor noch drei, vier Jahren die Augen umso fester verschlossen, desto bunter (und damit gefährlicher) die Briefumschläge gestaltet waren, die ich, ihren Inhalt ignorierend, nachlässig aus dem Postkasten zog, um sie oben angekommen in irgendeine dunkle Ecke zu schmettern, von der ich hoffte, sie würde den Haufen Altpapier wie ein schwarzes Loch verschlingen, führe ich auf dem eisernen Fundament akribischster Ordnerführung und Zahlungsüberwachung inzwischen einen unerbittlichen Kampf mit schlipstragenden Herren und kostümierten Damen, die wahrscheinlich nicht nur äußerst mittelmäßige juristische Examina vorweisen, sondern weder mündlich noch schriftlich einen ordentlichen Satz geradeaus formulieren können, um die wirklich letzten Schuldeneuros - minimale Kleinstbeträge, Forderungen überdies, die meines Erachtens inklusive Inkassoaufschlag und Zinseszins längst abgegolten sind - und fühle mich dabei manchmal wie das marode Griechenland.

11. Oktober 2011

Wissensdurst

Durch herbstliche Dunkelheit laufen. Das erste Laub unter den Schuhen und ab und zu eine einsame Kastanie. Dort auf der stillen Straße, schon tausendmal in meinem Leben entlang gegangen und von hohen Bäumen gesäumt, zieht im schnellen Gang auf meiner Rechten das Institut für Philosophie vorbei. Wärmendes Licht fällt von innen durch die riesige Fensterfront sich pfützenspiegelnd auf die dampfende Straße und die ordentlich aufgereihten Stühle im Foyer, auf denen gerade noch Erstsemesterstudierende Platz nahmen, bedeuten mir, dass schon wieder Oktober ist, das Semester bald anfängt. Wie auch ich auf diesen Stühlen dort drinnen gesessen habe vor einer gefühlt langen Zeit und wie sehr ich gebrannt habe für die Themen und Bücher, die Paradoxien des Denkens und die Fragen. Innerlich gänzlich zerwühlt bin manchmal hier herausgefahren aus der lauten Stadt, aber gebrannt habe ich immer für diese abstrakten Dinge. Beim Einschlafen zu Hause dann, als der Regen nachts stürmisch auf den Asphalt im Hof niederprasselt, bete ich es mir nochmals selbstvergewissernd vor: Ich habe gebrannt. Im Vollzug meiner Liturgie, die Augen schon zugefallen und nur noch hörend auf das monotone Prasseln, weiß ich wieder, ich brenne immer noch.

8. Oktober 2011

Die Krankheit zum Tode

Der Herbst trifft mich mit einem Schlag. Die frische, regengesättigte Luft macht den Kopf frei und das Herz ungleich schwerer. Den ersten Schnupfen des Jahres hat sie mir auch beschert. Heute beim Zusammenkramen der letzten Belege für die Steuererklärung 2010 fiel sie mir seit langer Zeit mal wieder in die Hand, die Einladung zu Deiner Beerdigung am 12.11.2009, darin ein paar Fotos verstaut, auf denen Du allesamt lächelst. Anders und ganz verwandelt ist diese Bindung zwischen mir und Dir heute, ganz und gar innerlich, still und allgegenwärtig. In drei Wochen jährt sich der Tag Deines Todes zum zweiten Mal, Deine Mom sprach es mir mit brüchiger Stimme vorhin aufs Band - als könnte ich das vergessen. Doch dieses Jahr wird es alles ein bißchen anders sein, denke ich, während ich Äpfel aus dem Garten meines Opas stückele, dieses Jahr werde ich an der Kaffeetafel der Großeltern sitzen, vor einer riesigen Geburtstagtorte hoffentlich. In drei Wochen vor 75 Jahren kam mein geliebter Opa, der Empfänger der Torte, zur Welt. "Ja, man muss auch die Lebenden feiern", sagt M., dem ich von den Geburtstagsplänen, der unglücklichen Überschneidung und meinen Gewissensbissen erzähle, gerade zur Tür hereingekommen. Und ein bißchen klingen noch die philosophischen Gespräche der Nacht nach; wie wir alle dem Tod preisgegeben - ein Dasein zum Tode - in der Intensität der Lebensvollzüge beginnen eigentlich zu leben. All jenem hast Du die kalte Schulter gezeigt. Dein Tod, die absolute Entschlossenheit zwar, nicht aber zum Leben, sondern zum Zerfall. Die Unterbrechung jener Vollzüge.