12. März 2023

Die Leere fetischisieren

Pläne, die per se zum Scheitern verurteilt sind: den Schreibtisch vollständig leeren, i. e. ihn im umfassenden Sinne vom Ballast der Arbeit befreien. Und damit meine ich nicht etwa, ein wenig Ordnung schaffen, den ein oder anderen Zettel oder Stift in wohlsortierten Schubladen wie von Zauberhand verschwinden lassen, sondern die Herstellung einer Leere im absoluteren Sinne. Das resultative Bewältigthaben von Korrekturbedürftigem, materialisierten Ansprüchen, papiernen Massen. Kurz: Abstinenz, Negation, Freiheit.

In meinem Alltag tobt ein steter Kampf, der nicht zu gewinnen ist. Es grenzt an Donquichotterie, die Stapel bezwingen zu wollen, statt ihrer Präsenz mit radikaler Akzeptanz zu begegnen und sich gelassen und gelöst wie ein Zenmönch den diktierten Arbeitsrhythmen hinzugeben. 

Wäre da nicht mein obsessives Verhältnis zur Ordnung, dem austarierten Verhältnis der Teile zu einem Ganzen. Ich brauche die freie Fläche, das tadellose Weiß, die geräumte Ebene. Klarheit. Obsiegen der Kontrolle über das Chaos.

11. März 2023

Unser Decamerone

Man muß im Zu­stand der HYS­TE­RIE sein, um Tex­te schrei­ben zu kön­nen, die das wirk­lich sa­gen, was ei­nem vor­schwebt. Völ­lig über­wer­tig be­ses­sen von Ide­en, Wor­ten, Kon­zep­ten, De­tails des Sprach­li­chen, den Fein­st­ab­wä­gun­gen von Ober- und Un­ter­tö­nen des Ge­schrie­be­nen, nein, es klingt noch nicht ge­nau so, wie es klin­gen soll­te, ir­gend­et­was fehlt noch, was ist falsch, wo wird zu dick auf­ge­tra­gen, zu pe­ne­trant in­sis­tiert, zu lan­ge ab­ge­schweift, wo wird zu poe­tisch ver­kürzt ge­spro­chen, wo zu com­mon­sens­ehaft all­täg­lich. 

Im Traum hörst Du nie wieder auf, mir vorzulesen.

Das Knistern der Zeitung, forever. Dust swirls in strange light.

10. März 2023

Entfachung, sag für Amore...

Wenn ich von heute aus den Weg rückwärts abschreite, um an den Punkt zu gelangen, an dem ich Hals über Kopf in die Liebe zur Dir fiel, um eine so treffende englische Phrase unbeholfen und pathetisch ins Deutsche zu bringen, das die Wendung nicht kennt, denke ich immer zuerst an Deine Art zu schreiben. 
Gedanken, nah an der Wahrnehmung formuliert, sinnlich und überaus fein. Wie Du in den ausufernden Texten, die zwischen uns im Minutentakt hin- und herflogen, auf Rothko und Benjamin, auf Farbe und Rhythmus zu sprechen kamst. Eine Sprache der Intensität und Zartheit. Speaking into the blackbox.

Wie mein Begehren damals zuerst durch das Schreiben entfacht wurde, wie schnell ich Feuer fing und dann heftig brannte.

Weil wir wussten, dass sich diese Gefühle des Belebtwerdens und Lebendigfühlens mit Worten nicht festhalten lassen, verknüpften wir unsere Nachrichten später selbstironisch mit Hashtags, die beim Aussprechen und Schreiben verborgene Regionen in meinem Hirn noch heute zum Flackern bringen.


#endlesssummer
#fromthetreshold
#niejemalszuvor
#sensualismus

9. März 2023

Epistulae ex Ponto: Geistige Heimat

Was ich insgeheim betrauere, ist nicht die Entscheidung selbst. Den Weg in eine andere Richtung eingeschlagen zu sein damals. In eine weniger akademische, lebensweltlichere, pragmatische. 

Es geht mir alles recht leicht von der Hand. Ich habe Zauberkräfte, wird gesagt. Man hängt an mir und braucht mich. Ich kann begeistern. Ich bin überzeugt: Niemand merkt etwas. Ich habe eine zweite Familie gefunden. Einen Beruf, eine neue Berufung.

Nur manchmal, im Schein der Schreibtischlampe am Abend, über die Abikorrekturen gebeugt, beim Aufschlagen der Essais, wenn der SWR Reiner Niehoffs Versuche über den Schatten ausstrahlt, Melanie Möller in der NZZ wortreich über die Metamorphosen und die Heroen der Aeneis fabuliert, mir eine vor Jahren verfasste Notiz zu Batailles Begriff des Verfemten in die Hände fällt oder zu Nietzsches Fatalismen, dann sticht es kurz. Dann wiegt der Verlust der alten Heimat kurz schwer, dann erheben sich Tristia in mir.

Noch lange nach der Zweiten Staatsprüfung, längst im Beruf angekommen, täglich im Klassenzimmer, mit einigen Funktionen betraut, ein stets voller Schreibtisch daheim und fest eingespannt in das schulische Hamsterrad, war mir die Vorstellung ganz und gar unheimlich, nicht gleichzeitig, parallel zur Vollzeitexistenz, an einer Berliner Hochschule immatrikuliert zu sein. Der akademischen Welt von nun an nicht mehr zuzugehören, von meiner alma mater entbunden worden zu sein...


hic ego, finitimis quamvis circumsoner armis,

tristia, quo possum, carmine fata levo.

quod, quamvis nemo est, cuius referatur ad aures,

sic tamen absumo decipioque diem.

3. Oktober 2014

Es lag eine seltsame Spannung in der Luft

Den ganzen Tag verfolge ich – nicht ohne innere Bewegung – im Radio und im Öffentlich-Rechtlichen die Berichterstattungen zum Tag der deutschen Einheit, ärgere mich morgens am Küchentisch, während der M. ob der Verbissenheit in meiner Stimme mal wieder die Augen verdreht, kurz über Gysi und seine dummdreisten Faseleien, von Unrechtsstaat könne ja keine Rede sein, und spüre einmal mehr, dass auch ich, so klein ich als im Jahr 83 Geborene auch war, betroffen bin von dem Sog der Ereignisse, der Kraftanstrengung, dem Mut, der Euphorie einer gegen die Verhältnisse aufbegehrenden Generation. Dass sie tief vergraben liegen in der, die ich heute bin. Überwältigend diese Bilder und Stimmen aus dem Herbst 1989 und mitten in dem unaufhörlichen Strom auch meine Eltern und ich auf dem Weg ins Ungewisse. Mitten im Nirgendwo und doch gleichsam Teil einer großen Bewegung. "Ein Moment unverhofften Glücks, der sich nicht abträgt", sagt Ines Geipel in ihrer persönlich Rückschau auf diesen wichtigsten Moment ihres Lebens; sie, die sie wie wir der DDR an der grünen Grenze den Rücken kehrte, nichts ahnend, dass der Staat, in dem sie einst lebte und dem sie sich längst entwachsen fühlte, wenige Monate später für immer Geschichte sein würde.

10. September 2014

Eierlikör

Auch die Nachricht, dass sie am Vorabend ihres Todes mit meinen Tanten in ihrem alten Haus würfelnd beisammensaß, nachdem jene sie auf ihren Wunsch nach Hause geholt hatten, und sich im Laufe des Spieles auch ein Gläschen Eierlikör munden ließ, lässt mich immer wieder schmunzeln, so traurig ich bin. Überhaupt strömen die vielen Bilder und lebendigen Erinnerungen, die ich längst vergessen glaubte, nur so aus mir hervor: Die skurrilen Gruselgeschichten, die sie mir vor dem Einschlafen erzählte und die manchmal solch' grobe narrativen Mängel aufwiesen, dass wir beide lachen mussten, ehe sie auserzählt waren. Das schwere Federbett, in das ich dick eingemummelt neben ihr lag, in dem wir morgens NDR1 hörten und auch der Nachttopf neben dem Bett, damit mir in der Nacht die dunkle Treppe erspart blieb. Unzählige Nachmittage mit meinen Eltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen in ihrem Garten unter einem endlosen Sommerhimmel, das Kohleschippen und ihre stets im ostfälischen Börde-Platt verpackten Erzählungen von der näherrückenden Ostfront, dem Ende des Krieges und dem Wiedersehen mit meinem Opa, der Anfang der 60er-Jahre starb als mein Vater noch ein Kleinkind war. Diese auf den ersten Blick immer etwas konfus wirkenden, verschachtelten Ausfächerungen und Verzweigungen erzählten Lebens, deren Zusammenführung ihr trotz des 90. Lebensjahres bis zum Ende routiniert gelang – vielleicht auch das von ihr geerbt. In den letzten Jahren waren sie immer häufiger mit dem Aufruf gespickt, der liebe Gott möge das Nachsehen haben und sie nach einem derart langem und randvollen Leben endlich zu sich holen, denn genug sei nun einmal genug. 
Vor allem aber ihr aufbrausender Charakter, der cholerische Grundzug, den selbst das Alter nicht abzumildern im Stande war, der sie das Besteck oder Geschirr auf den fast gedeckten Abendbrottisch schmettern ließ, wenn ihr irgendetwas nicht passte, ist es, der sich zweifelsohne sowohl bei meinem Vater als auch bei mir wiedererkennen lässt, der selbst im ungestümen Wesen der kleinen L. durchzuscheinen beginnt und auf eine seltsame Weise und über den Tod hinaus ein unauflösliches Band zwischen uns knüpft.

9. September 2014

Oma

Vier Schnaps, ein Bier und eine durchwachte Nacht später den ganzen Tag über, auf dem Weg in die Schule und auf dem Heimweg, zwischen den Unterrichtsstunden und der heimischen Vokabelplackerei mal still, mal lauter, mal verzweifelt geweint. Vor allem schmerzt mich, dass ich sie vor fast anderthalb Jahren mit der fast noch frischgeborenen L., ihrer Urenkelin, im Schlepptau das letzte Mal sah und seitdem die Chance nicht mehr ergriffen hab, sie, bevor sie am Samstag gestorben ist, nochmal zu besuchen. Das einzige, was mich ein bisschen tröstet: die Tatsache, dass sie nicht auf harten Liegen und in sterilen Zimmern monate- vielleicht sogar jahrelang herumvegetieren musste, dass ihr zumindest diese letzte Würde geblieben ist, dass zwei ihrer Kinder (mein Onkel und meine Tante) sie in den letzten Stunden begleitet haben und sie nicht alleine gewesen ist. Seit langem auch wieder diesen Schmerz gespürt, der alles zusammenschnürt, diese Enge in der Brust, die mich kaum atmen lässt. Und immer wieder auf dieses Foto geschaut: Sie, lächelnd und den Arm um mich gelegt, ich, fast vierjährig auf einem Geschenkband herumknabbernd neben ihr auf dem Sofa sitzend. Genau beäugt von der Katze, die auf einem Kissen unter dem lamettageschmückten Baum sich platziert hat. Wann immer gerade mein Blick darauf fällt, trotz der unzähligen Stiche im Herzen auch eine unbeschreibliche Wärme bei dem Gedanken verspürt, wie lieb sie mich einmal gehabt hat und wie lieb sie mir war und ist.