5. Januar 2012

Vom Gejagtwerden

Ja, ich bin ein halbwegs politischer Mensch. Ich engagiere mich in einer Partei, verfolge die aktuellen Diskurse, Debatten, Sachargumentationen (wenn vorhanden) und kann eine Handvoll Regionalpolitiker aufzählen. Ich kenne die Senatoren Berlins, viele der gewählten Abgeordneten, ihre Zuständigkeiten und die Ausschüsse, Gremien, Verwaltungen, für und in denen sie tätig sind. Ich besorge mir/konsumiere Informationen eher auf klassisch-konservativen Weg (habe keine Anarcho-Antikapitalista-Transgender-Queer-Feeds abonniert). Ich lese den Politikteil der Süddeutschen, des Tagesspiegels, der taz (manchmal mit Ärgernis über soviel Mit-dem-Fuß-Aufgestampfe und zu wenig Sachlichkeit) und der ZEIT oft zuerst, außer ein interessanterer Artikel aus dem Ressort Wissen oder Feuilleton macht diesem Automatismus einen schönen, geistreichen Strich durch die Rechnung. Ich sehe sehr wenig fern und wenn einmal, dann am liebsten 3Sat wegen der schönen Bergsteigerdokumentationen, manchmal arte und ARD (für den sonntäglichen Tatort). Doch die inzwischen auch dort eingestreuten, mir täglich zugemuteten Diskussionen um Kredit und Urlaub, Diekmann-Bedrohung und Sühnertum werden allmählich unzumutbar. Und obwohl ich nie CDU gewählt habe, mein ganzes Leben nie daran denken würde, dies zu tun, Joachim Gauk im Hinblick auf seine Vergangenheit als Bürgerrechtler in der DDR und auch was seine Geisteshaltung angeht, für mich der weitaus geeignetere Kandidat für das Bundespräsidialamt gewesen wäre, finde ich die momentane Hetz- und Hasskampagne von Medien und Politik - qua Selbstverständnis zu selbsternannten Kontrolleuren des politischen Prozesses auserkoren, freilich - einfach nur widerlich. Verabscheuenswürdig jene Destruktion, Entwürdigung und Verachtung von Amt und Person und für mich ganz und gar unangemessen, hier beständig die Kategorien von Privatheit und Öffentlichkeit durcheinanderzuwirbeln. Wundert sich denn im Ernst keiner über diese maßlose Überspitzung der Vorfälle oder halte nur ich das zu günstigen Konditionen kreditfinazierte Eigenheim für eine Lapalie wie sie in den entsprechenden gesellschaftlichen Kreisen gang und gäbe, also als geschäftliches Muster fest etabliert ist. Warum fühlt sich mein Gerechtigkeitsbewusstsein angesichts der erhobenen Vorwürfe gegen Wulff nicht um einen Hauch erschüttert? Warum erwarte ich weder Rücktritt noch sehe ich Anlass zu Sühne, Selbstgeißelung oder gar publikumswirksamer Kreuzigung?
Ich kann mir nicht helfen, all das Vorgebrachte, die Vorwürfe, die Hetze, die Anklagen, das Strickmuster der Kampagne ruft Erinnerungen an meinen Deutschunterricht in der zehnten Klasse wach. Damals lasen wir gerade Die verlorene Ehre der Katharina Blum von Böll. Ein Buch, das mich derart betroffen zurückließ, dass ich meinen gesamten Hass, die gefühlte Verzweiflung, ausgelöst durch die in der Erzählung von Presse und Öffentlichkeit an den Tag gelegte Menschenverachtung, nur durch bittere Kraftanstrengung herunter schlucken konnte. Der Film gab mir in dieser Hinsicht schließlich den Rest.
Und dieser umstrittene Anruf bei Kai Diekmann, ich bitte Sie! Hätte dieser die Liste meiner 67 Gläubiger, die Männer, mit denen ich schlief, eine Liste meiner Freunde, bei denen ich je übernachten habe, ohne mich finanziell dafür erkenntlich zu zeigen, veröffentlichen wollen, hätte ich es nicht dabei bewenden lassen, ihn auf seinem Band nicht nur infamer Lügen zu zeihen, vielmehr hätte ich  ihm im Springer-Haus vor sein Büro gekackt. Einen richtig stinkenden Dreckshaufen hätte ich dagelassen. Aber das Scheißen ähm die  Defäkation in der Öffentlichkeit, das steht einem bald scheidenden (?) Bundespräsidenten freilich nicht zu.