10. September 2014

Eierlikör

Auch die Nachricht, dass sie am Vorabend ihres Todes mit meinen Tanten in ihrem alten Haus würfelnd beisammensaß, nachdem jene sie auf ihren Wunsch nach Hause geholt hatten, und sich im Laufe des Spieles auch ein Gläschen Eierlikör munden ließ, lässt mich immer wieder schmunzeln, so traurig ich bin. Überhaupt strömen die vielen Bilder und lebendigen Erinnerungen, die ich längst vergessen glaubte, nur so aus mir hervor: Die skurrilen Gruselgeschichten, die sie mir vor dem Einschlafen erzählte und die manchmal solch' grobe narrativen Mängel aufwiesen, dass wir beide lachen mussten, ehe sie auserzählt waren. Das schwere Federbett, in das ich dick eingemummelt neben ihr lag, in dem wir morgens NDR1 hörten und auch der Nachttopf neben dem Bett, damit mir in der Nacht die dunkle Treppe erspart blieb. Unzählige Nachmittage mit meinen Eltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen in ihrem Garten unter einem endlosen Sommerhimmel, das Kohleschippen und ihre stets im ostfälischen Börde-Platt verpackten Erzählungen von der näherrückenden Ostfront, dem Ende des Krieges und dem Wiedersehen mit meinem Opa, der Anfang der 60er-Jahre starb als mein Vater noch ein Kleinkind war. Diese auf den ersten Blick immer etwas konfus wirkenden, verschachtelten Ausfächerungen und Verzweigungen erzählten Lebens, deren Zusammenführung ihr trotz des 90. Lebensjahres bis zum Ende routiniert gelang – vielleicht auch das von ihr geerbt. In den letzten Jahren waren sie immer häufiger mit dem Aufruf gespickt, der liebe Gott möge das Nachsehen haben und sie nach einem derart langem und randvollen Leben endlich zu sich holen, denn genug sei nun einmal genug. 
Vor allem aber ihr aufbrausender Charakter, der cholerische Grundzug, den selbst das Alter nicht abzumildern im Stande war, der sie das Besteck oder Geschirr auf den fast gedeckten Abendbrottisch schmettern ließ, wenn ihr irgendetwas nicht passte, ist es, der sich zweifelsohne sowohl bei meinem Vater als auch bei mir wiedererkennen lässt, der selbst im ungestümen Wesen der kleinen L. durchzuscheinen beginnt und auf eine seltsame Weise und über den Tod hinaus ein unauflösliches Band zwischen uns knüpft.