4. Mai 2023

Unangepasst leben; Ästhetik der Existenz I

Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet.  
F. Nietzsche: MA §225, 1878


Leichte Irritationen, die sich noch heute beizeiten offenbaren. Obwohl das hier, mein Leben und Alltag, die Überzeugungen schon lange Teil eines Erwachsenenlebens sind, mit seinen Abständen zum Herkömmlichen.

Spürbar, mitunter, als kleine Nachbeben von Mustern und Logiken, einer Art Prägung, die ich hinter mir gelassen glaubte, die mir aber immer wieder unerwartet vor die Füße fallen.

Da kracht dann die Absolutheit der Struktur (Tagesplan, frühes Aufstehen, Orientierung an Mahlzeiten, Wert- und Überschätzung von Erwerbsarbeit, feste Fernsehzeiten, Aufräumen, Mine machen, unauffällig und bescheiden durchs Leben gehen) gegen das innere Bedürfnis (lange im Bett liegen, auf der Bettdecke Wochenendzeitung und Romane und Frühstück, fabulieren, Sensualismus, Genuss, Treibenlassen, lange schon kein Fernseher mehr, niemals nach der Uhr sehen müssen). Lange Zeit war das unter den Schichten von Idealvorstellungen von mir, Ehrgeiz und Leistungsdruck gar nicht greifbar.

Vielleicht darf mir deshalb heute nur selten jemand hineinreden. Mein Reich, meine Regeln; manchmal ertrage ich nicht mal die Kleidung des Liebsten auf meiner Stuhllehne. Sage natürlich nichts, weil das wiederum wirklich affig wäre. Vielleicht bin ich deshalb so resolut was meinen eigenen (Frei-)Raum betrifft, bin in vielerlei Hinsicht und auf meine Art – bei aller vermeintlichen Extraversion nicht immer gleich offen heraus und mit Aushängeschild "Do not disturb!" – energisch, bestimmt, verbohrt.

Vielleicht habe ich mich deshalb im Philosophiestudium besonders zu Denkern hingezogen gefühlt, deren Existenz, die eigene Familie, Klasse, Herkunft zumindest durchkreuzte, um ihre eingefleischten Abläufe in sich selbst langsam zu zersetzen. Ein Zustand, für den die die Römer einen treffenden, wenn auch gewaltsamen Ausdruck gebrauchten, den sie schon den Griechen ablauschten: lacerare (zu λακίς, der Fetzen; λακίζω, zerreißen). Nietzsche, Cioran, Bataille, auch Foucault und Bourdieu.

1. Mai 2023

Bücher, jederzeit

Eine der entscheidenden Stellen, an denen mir immer wieder bewusst wird, dass ich es in einem – wenngleich relativ überschaubaren, für mich umso gewichtigeren – Rahmen "geschafft" habe und nichts befürchten muss, keinen Absturz, kein Prekariat, keine Geldsorgen:

Ich kann mir jederzeit Bücher kaufen, neuerschienene, Hardcover, Schmuckausgaben, Wälzer, Kataloge, bibliophile Berzbachs und Schalanskys. Wann immer mir danach ist. Das vormals strenge Bilanzieren ist einem Genuss des inspirierten Lebens gewichen. Frei von Angst.

5. April 2023

Ciel

Während wir am Strand entlang spazieren, breiten wir unser Leben voreinander aus. 
Eine kräftige Frühlingssonne wärmt mein Gesicht. Meine Sonnenbrille habe ich letzte Woche in Berlin liegen lassen. Das Licht ist so gleißend, dass ich, während wir sprechen, andauernd blinzeln muss. Als läge dieser lange Winter gerade weit hinter uns.
Über uns wölbt sich ein unendlicher Himmel: blau und unfassbar hoch.
Wie leicht sich das Leben manchmal anfühlt, wie groß und erhebend.

4. April 2023

Anfänge

Als hätten wir am Anfang gemeinsam in einer Monade gewohnt und nichts gebraucht außer uns selbst…
In jenem ersten Jahr hatte ich nicht das Bedürfnis, jemandem von uns zu erzählen. Ich schrieb nichts auf. Ich war vorsichtig. Noch ist es nicht dran, das Erzählen, sagte ich mir. Das Erzählen war in meinen Augen etwas, das erst am Schluss kommt.

3. April 2023

Horten

Vor einiger Zeit habe ich im Deutschlandfunk einen Beitrag über das Aufräumen gehört, in dem auch Marie Kondo eine prominente Rolle spielte.
Ich erinnere mich nur noch dunkel, dass neben den geläufigen Strategien auch ein Psychotherapeut zu Wort kam, der darin kurz auf die Gründe für das übermäßige Ansammeln von Dingen zu sprechen kam. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir seine Einschätzung, dass eine lieblose Kindheit oft mit dem späteren Anhäufen und Festhalten von unnötigem Besitz einhergeht — im Gegensatz zur Ansammlung von Statussymbolen der sozialen Aufwertung. Horten als eine Art emotionaler Hyperkompensation der Zukurzgekommenen. 
Als das Kind einer exzessiv hortenden Mutter mit einem Kleiderschrank, von dem mein Vater meint, dass er wegen seiner stattlichen Größe und seines immensen Gewichts jederzeit durch die Decke in die darunterliegende Wohnung zu stürzen droht, wurde ich sofort hellhörig.
Wie sie leide ich an einer manischen Obsession des Anhäufens, einer übertriebenen Akkumulation jenseits produktiver Sammelleidenschaft. Wie sie kapriziere ich mich seit Jahren auf den Konsum von Kleidung und Kosmetik. Dabei geht es nie um Hochpreisiges oder gar Exquisites aus Designerhand. Es ist die schiere Masse, die zählt. Auf fünf parallelen Webseiten überquellende Warenkörbe, digitalisierte Listen mit angestrebten Konsumwünschen, wiederkehrende Verzweiflung beim Umstellen der Garderobe von Sommer auf Winter, von Winter auf Sommer, zwischenzeitlich: Befreiungsschläge und spontanes Loslassen von einer Kofferraumladung Kleidung, dann erneute Jagd und spätere Anbetung der Beute.
Es ist absurd. Ein großer Teil meines Lebens besteht aus einer absoluten Verausgabung im/an den Konsum, einer Dauerbeschäftigung mit der Beschaffung von Dingen, an denen man sich kurz festhalten kann, die man dann festhält und verteidigt.
Dabei kann niemand all das jemals anziehen. Auch in zehn Leben nicht…

31. März 2023

Dinner für eine

Festtagsstimmung. Ferienvorfreude. Lange Wochen, hohe Stapel, Prüfungsvorbereitungen und erste Abschiede (Adieu, geliebte 13.3!). Heute gönne ich mir etwas. Als ich zwischen den Kollegen Platz genommen habe, ordere ich den ersten Apérol Spritz, dem bald weitere folgen werden. Eine Caprese zu Beginn: San Marzano, Mozzarella di Bufala, Olivenöl, Basilikum. Primo piatto: Penne all’Arrabiata. Secondo: Salmone alla griglia. Espresso und Tiramisu. Ich proste nach links und rechts und gegenüber. Gebe Anekdoten mit ausladenden Gesten zum Besten, sodass die Gläser zu vibrieren beginnen. Beim Lachen liegt mein Kopf wahlweise auf der Tischplatte oder an der Schulter meines Nachbarn.

60€ in für ein Dinner for one auszugeben, hätte in meiner Herkunftsfamilie wohl nur ungläubiges Kopfschütteln ausgelöst. Heute gönne ich mir etwas. Heute lasse ich es krachen. Heute fühle ich mich wie Kroísos aus Lydien.

29. März 2023

A tunnel under Ocean Blvd

Welche Magazine, Feuilletons und Podcast ich in den Tagen nach der Veröffentlichung auch konsultiere, die Musikkritik deliriert sich mal wieder in Rage, salbadert selbstverliebt vor sich hin, radebrecht mit platten Deutungsansätzen (ein Eifersuchtsdrama, c'mon!) und verwechselt amateurhaft Urheberin und Kunstfigur, kunstschaffende Instanz und künstlerischen Entwurf, sodass mir nach fünf Rezensionen der Kopf raucht.

Offenbar verspürt niemand einen Hauch der Selbstreferentialität, die in den Texten angelegt ist. Niemand bemerkt den feinen Humor, die Kunst der Pose, das Spiel mit Bedeutung, die Taschenspielertricks mitgelieferter Lesarten.

Nur der F. hat mal wieder ein Ohr für das, für Lana, für mich.

Eilig schreibe ich ihm mit ungeduldigen Fingern von dem Eindruck, der sich mir schon seit Freitag aufdrängt und erst allmählich verbalisieren lässt... 

Der achte Track des furiosen Albums (zahlenmystisch genau die Mitte markierend) heißt "Kintsugi" (japanisch: 金継ぎ), was, wie eine schnelle Recherche ergibt, mit „Goldflicken“ übersetzt werden kann.

Etwas Zerbrochenes wieder zu kitten, ohne dabei den Bruch zu verschleiern, ihn im Gegenteil bewusst sichtbar zu machen und — golden! — zu affirmieren. Wow! Von dort aus ist der Schritt zu Wabi Sabi (侘寂) schnell getan: als ästhetisches Prinzip mit dem Schlüsselgedanken, Schönheit in jedem Aspekt der Unvollkommenheit zu finden. Lana ist sehr klug, vermag der auf den ersten Blick beiläufige Titel doch veritable Ansätze zur Interpretation ihres aphoristischen Ansatzes liefern. Die kompositorischen Kunstgriffe und die gloriose Stimme sind der Urushi-Lack, der die verstreuten Fragmente zusammenbindet. Wow!


Auf meiner Stirn klebt groß und gut lesbar "Viva la gaya scienza!" und "Nieder mit der Anbetung des Positivismus!"

Dem Dichter und Weisen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig, alle Menschen göttlich.

27. März 2023

janusköpfig – Manie, vol. I

 "Immer, wenn ich auf den Fotos nicht mehr den Unterschied zwischen deinen Schüler*innen und dir als ihrer Lehrerin erkennen kann, weiß ich, was los ist, wollte als deine Freundin aber nicht sofort den mahnenden Zeigefinger erheben", schreibt mir die V. mit ein wenig Verzögerung von der Insel, nachdem sie offensichtlich meine Gruppenbilder der Mottowoche gesichtet hat. 

Ich: täglich kostümiert, wahlweise in Mermaidpose, Huckepack, von meinem Leistungskurs auf Händen getragen, Standwaage, Vrksasana, Plank, springend, liegend, posend, Zunge raus, Sonnenbrille, Victory-Zeichen, breite Schultern. My gosh!

Wenn alle Grenzen verschwimmen und der manische Teufel mich reitet, dann hat der eine Kopf des Ianus die Überhand gewonnen und flieht ungestüm voraus, die Existenz des zweiten annullierend.

Exzessive Ausgelassenheit und intensive Emotionen erscheinen bei mir stets als trügerisches Vexierbild, tragen sie doch schon immer einen pathologischen Keim in sich. Echte, unzweifelhafte, gesunde Freude: ein unsicheres, ungesichertes Terrain. 

Beim allmählichen Runterkommen in den letzten Tagen mehrmals darüber geweint. 

Meine unbändige, gefährliche, illusorische, vergiftete Freude.