1. September 2014

Erster Schultag

Mein erster Schultag ist übervoll von Eindrücken. Das Setting: jahrgangsübergreifendes Lernen von Klasse 1–3. Während sich für mich als Außenstehende sofort erkennbar ost-westdeutsche Gräben durch das Lehrerzimmer ziehen, warten auf dem Hof unter einem grauen Herbsthimmel seit halb acht Erstklässler in gespannter Erwartung auf ihren ersten Schultag, ihre ungeduldigen Eltern zugleich auf eine möglichst baldige reibungslose und vor allem glückende Integration in unser Bildungssystem – der Garant für den späteren beruflichen Erfolg ihrer Schützlinge! Einige von ihnen werden erst in wenigen Monaten sechs Jahre alt, manche sind von derart zarter Statur, das man glauben könnte, sie würden unter ihrem tonnenschweren Tornister noch auf der Stelle zusammenbrechen, wenn der Small-Talk mit ihren engagierten Eltern nur noch wenige Minuten länger andauerte. Viele der insgesamt 27 Kindergesichter sind mir als Mutter einer Anderthalbjährigen von den umliegenden Spielplätzen her bekannt und auch ihre Eltern, so meine ich zu vernehmen, blinzeln mir bei ihrer Übergabe verschwörerisch zu.
Im Hintergrund des Unterrichtsgeschehens liegt, trotz der tatkräftigsten Bemühungen ihrer passionierten Lehrerin, die ich in den kommenden Wochen beobachten und unterstützen darf, eine spürbare Anspannung in der Luft. Ein diffuser Leistungsdruck, der manche nicht so robuste (fast) Sechsjährige, die noch keine adäquate Strategie entwickelt haben, diesen Spannungsgefühlen standzuhalten, am Ende ihres ersten Tages in sich zusammensinken und verzweifelte Tränen weinen lässt. Der von einer quasihomogenen gutbürgerlich-akademischen, ortansässigen Arkonaplatz-Klientel der Ende der 1960er / Anfang der 1970er Geborenen (diesen „Oma-und-Opa-Eltern“, wie meine Schwiegermutter, als junge Mittfünfziger-Omi, etwas despektierlich zu sagen pflegt), mit ökologisch-alternativ orientierter Lebensweise, finanziellen Spielräumen und Montessori-Einschlag, nach Vorbild der eigenen Eltern, denen man früh in ein aufregendes Nach-Wende-Berlin entfloh, in die bereitwilligen Kinder frühzeitig eingesät worden ist, um die eigene  Furcht vor einem unwiderruflichen Scheitern am Leben wenigstens ein bisschen zu betäuben. Machen wir uns nichts vor: Dass alle Formen staatlich institutionalisierter Erziehung und Bildung, um Individuen gesellschaftsfähig zu machen,  zwangsläufig auch mit Zu-(Ab-)richtung verbunden sind, dazu muss man wahrlich nicht Foucault gelesen haben, dass Disziplinartechniken jedoch auf noch viel perfidere Art und Weise – ein angesehener Chirurgenvater züchtigt seine 8-jährige Tochter  bei Lernverweigerungshaltung, indem er sie im Bedarfsfalle kalt abduscht  – schon in den Herkunftsfamilien zum Standard erzieherischer Praxis gehören und die Kinder in der Schule erstmals Freiräume verspüren, die sie von zu Hause nicht kannten, das macht mir schon irgendwie ein wenig Bauchschmerzen. Gerade, wenn ich mir vorstellen muss, dass ich diese Kinder-Eltern-Paare in den nächsten Jahren in meinem unmittelbaren Nahbereich öfter zu sehen bekomme, und, was ebenfalls nicht auszuschließen ist, in höheren Klassenstufen bald selbst in meinem Latein-, Deutsch- oder Philosophieunterricht begrüßen dürfte.