Mein erster Schultag ist übervoll von Eindrücken. Das
Setting: jahrgangsübergreifendes Lernen von Klasse 1–3. Während sich für mich
als Außenstehende sofort erkennbar ost-westdeutsche Gräben durch das
Lehrerzimmer ziehen, warten auf dem Hof unter einem grauen Herbsthimmel seit
halb acht Erstklässler in gespannter Erwartung auf ihren ersten Schultag, ihre
ungeduldigen Eltern zugleich auf eine möglichst baldige reibungslose und vor
allem glückende Integration in unser Bildungssystem – der Garant für den
späteren beruflichen Erfolg ihrer Schützlinge! Einige von ihnen werden erst in
wenigen Monaten sechs Jahre alt, manche sind von derart zarter Statur, das man
glauben könnte, sie würden unter ihrem tonnenschweren Tornister noch auf der
Stelle zusammenbrechen, wenn der Small-Talk mit ihren engagierten Eltern nur
noch wenige Minuten länger andauerte. Viele der insgesamt 27 Kindergesichter
sind mir als Mutter einer Anderthalbjährigen von den umliegenden Spielplätzen
her bekannt und auch ihre Eltern, so meine ich zu vernehmen, blinzeln mir bei ihrer
Übergabe verschwörerisch zu.
Im Hintergrund des Unterrichtsgeschehens liegt, trotz der
tatkräftigsten Bemühungen ihrer passionierten Lehrerin, die ich in den kommenden Wochen beobachten und unterstützen darf, eine spürbare
Anspannung in der Luft. Ein diffuser Leistungsdruck, der manche nicht so
robuste (fast) Sechsjährige, die noch keine adäquate Strategie entwickelt
haben, diesen Spannungsgefühlen standzuhalten, am Ende ihres ersten Tages in
sich zusammensinken und verzweifelte Tränen weinen lässt. Der von einer
quasihomogenen gutbürgerlich-akademischen, ortansässigen Arkonaplatz-Klientel
der Ende der 1960er / Anfang der 1970er Geborenen (diesen „Oma-und-Opa-Eltern“,
wie meine Schwiegermutter, als junge Mittfünfziger-Omi, etwas despektierlich zu
sagen pflegt), mit ökologisch-alternativ orientierter Lebensweise, finanziellen
Spielräumen und Montessori-Einschlag, nach Vorbild der eigenen Eltern, denen
man früh in ein aufregendes Nach-Wende-Berlin entfloh, in die bereitwilligen
Kinder frühzeitig eingesät worden ist, um die eigene Furcht vor einem unwiderruflichen Scheitern am
Leben wenigstens ein bisschen zu betäuben. Machen wir uns nichts vor: Dass alle
Formen staatlich institutionalisierter Erziehung und Bildung, um Individuen
gesellschaftsfähig zu machen, zwangsläufig
auch mit Zu-(Ab-)richtung verbunden sind, dazu muss man wahrlich nicht Foucault
gelesen haben, dass Disziplinartechniken jedoch auf noch viel perfidere Art und
Weise – ein angesehener Chirurgenvater züchtigt seine 8-jährige Tochter bei Lernverweigerungshaltung, indem er sie im
Bedarfsfalle kalt abduscht – schon in
den Herkunftsfamilien zum Standard erzieherischer Praxis gehören und die Kinder
in der Schule erstmals Freiräume verspüren, die sie von zu Hause nicht kannten,
das macht mir schon irgendwie ein wenig Bauchschmerzen. Gerade, wenn ich mir vorstellen
muss, dass ich diese Kinder-Eltern-Paare in den nächsten Jahren in meinem
unmittelbaren Nahbereich öfter zu sehen bekomme, und, was ebenfalls nicht
auszuschließen ist, in höheren Klassenstufen bald selbst in meinem
Latein-, Deutsch- oder Philosophieunterricht begrüßen dürfte.