31. August 2011

These boots

Diese cognacfarbenen Cowboystiefel aus butterweichem Leder mit den filigranen Ziernähten, die ich immer so mochte, waren nicht nur zum Laufen gemacht, sondern ließen mich jahrelang über die Dancefloors etlicher Berliner Clubs nur so schweben. Heute nun habe ich mich schweren Herzens von den treuen Begleitern getrennt. Das Leder war an einigen Stellen derart ruppig von der Sohle gerissen, dass selbst mein Schuhmacher unserer Scheidung nichts mehr entgegen zu setzen hatte. Weil ich den Gang nicht eigens über das Herz brachte, musste M. sie, behutsam mit einer Tüte umwickelt und mit einem larmoyanten "Lebt wohl" behaucht, das letzte Stück auf den Hof begleiten. Da liegen sie nun, die Guten, artig zusammengefercht mit Filtertüten, Joghurtbechern und Apfelgriebschen. Hach!

27. August 2011

Adieu

3. Person Singular, Imperfekt, Indikativ, Aktiv.
Gestern noch rot lackierte Zehen in Riemchensandaletten, heute nasse Jeans bis zum Knie und schwimmende Zehen in durchnässten Asics.

26. August 2011

Vom Spieltriebe

Ein Nachmittag im Volkspark am Weinberg. Eine Hochsommersonne brennt sich in die Haut der entkleideten Leiber. Sonnenanbeter gesellen sich zu Sonnenanbetern. Sardinendosenhaft liegen ihre Handtücher nah aneinander ausgebreitet wie auf spanischen Inseln zu Ferienbeginn. Inmitten des stillen aber geschäftigen Treibens hat sich ein Grüppchen junger Männer gebildet. Von der Sonne beschienen strotzen ihre athletischen Anfang-Zwanzig-Körper prächtig vor Virilität. In Windeseile sind je ein Paar Sneakers zu einem Tor umfunktioniert, ist ein kleiner Ball aufgetrieben, das Spiel begonnen. Ein anhaltendes Gestürme und Gerangel bietet sich der amüsierten Betrachterin dar. Rennend und in permanenter Bewegung haben sie, die selbstvergessenen Spielenden, rasch eine fesselnde Geräuschkulisse um sich aufgebaut: Triumphales Gejohle löst wüste Beschimpfung ab und dazwischen immer wieder ein kindlich-amüsiertes Lachen. Als der Ball dann im Seerosentümpel landet - beliebte Badestelle für die Hunde Berliner Punker- wird nicht lange gezögert, eine Münze geworfen und der Verlierer stimmlich mit Beleidsbekundungen und Gelächter durch die Brühe zum Ball geleitet. Zur Belohnung gibt es für diesen, am Ufer angelangt, eine Sternburg-Dusche und das Spiel wird unverzüglich und mit gleichem Elan aufgenommen als wäre nichts gewesen. Ich selbst hetze, die braunen Füße längst schon wieder in den Fesselriemchen-Sandalen, auf meinem Fahrrad zum nächsten Termin und denke, von jener Szene innerlich verzückt, so bei mir, dass ich das schon immer sehr gemocht habe, die Verlorenheit im Spiele, die mir so selten bei Frauen begegnet. Jene Versunkenheit im Wollen, meine lautstarken Anflüge jugendlichen Überschwangs, für die ich selbst von diesen, im spielerischen Sinne absolut Unambitionierten, manchmal spitzlippig gerügt und fast immer kritisch beäugt worden bin. Für diese körperbetonte, sportive, manchmal auch agressive Art des direkten Miteinandermessens, für das sie einfach keine Empathie aufbringen können.

24. August 2011

On the run

Würde mein Leben verfilmt, dann als Aneinanderreihung von Laufepisoden. Was das Laufen (nicht Joggen) angeht, bin ich nämlich irgendwie besessen, wenn man so sagen kann. Ich liebe es abgöttisch, nahezu manisch, dieses ziellose, aber dynamische Flanieren mit Musik im Ohr. Besonders in warmen Nächten; wie diese eine ist. Da ich,  auf dem Arbeitsweg vom Regenschauer kalt erwischt, mein Fahrrad heute morgen am Bahnhof Friedrichstraße genervt stehen ließ und meine Fahrt mit der S-Bahn fortsetzte, kam ich durch einen Umweg über eine Berliner Weiße mit Waldmeister in der Kreuzberger mokkabar zum Feierabend in den Genuß eines unvergleichlichen Sommernachtsspaziergangs. Von dort aus lief ich am prächtigen Jüdischen Museum vorbei zum Gendarmenmarkt, die Nase kurz am Schaufenster der Chocolatiers Fassbender&Rausch (buchstäblich!) plattgedrückt, dann widerwillig losgerissen, an Lutter&Wegener vorbei, gut gefüllt wie eh und je, Unter den Linden gekreuzt. Das Grimm-Zentrum leuchtet, mein Fahrrad habe ich da schon beinahe erreicht, vorwurfsvoll auf mich herab und mahnt mich wie ein zärtlicher Vater, meine akademischen Verpflichtungen ob der sentimentalen Verwirrungen, die dieses Wetter mit sich bringt, nicht allzu sehr zu vernachlässigen. Und überhaupt überall entlang des Weges, den ich zurücklasse, Massen von Menschen, fast lautlos durch die Nacht gleitend. Die bei Kerzenlicht die Köpfe zusammenstecken, lachen, flüstern. Die schwüle Luft rieht nach Motoröl, Hundekot und Pizza. Schweißperlen, die den Rücken hinunterlaufen und trotzdem Gänsehaut bei den alten Springsteen-Platten, die mein Vater an fast dem gleichen Ort in einer anderen Zeit schon hörte. River - I'm on fire - Radio Nowhere. Und noch schwingt die schmeichelhafte Bemerkung eines blinden Kollegen in mir nach, meine eigene, diese viel zu laute, auf dem AB derart verzerrte, manchmal unkontrollierbare Stimme, würde sich ideal für Hörspiele eignen. Auch ein bißchen Stolz und Verlegenheit. Später auf dem Fahrrad dann, nur noch ein minimaler Heimweg vor mir, in großem beschwingten, vielleicht etwas nachttrunkenen Slalom durch die Ackerstraße. Fast so als könne man abheben in den Nachthimmel hinauf. Und während ich dies hier schreibe, feiert die Welt draußen mal wieder ihren nächsten Untergang.

21. August 2011

Der Sommer ist noch lang...


...hofft die Möwendomteuse und hat dabei, den Ostsee-Kontrollettis und 25.000€ Bußgeld für die unerlaubte Fütterung mit durchschwitzter Wurstbemme gerade noch von der Schippe gesprungen, eine alte Platte der Helden im Ohr - die Repeat-Taste den ganzen Tag eingerastet:

Vielleicht wärst du Seetang
Ich wäre Krill
Wir wären der Seegang
Und dann wären wir still

Über uns Möwen
Hungrig und schrill
Aber uns wär egal
Ob die Möwe was will

Soll sie doch fragen: „Wo sind sie hin?“
Ich werd niemandem sagen, wo ich bin

Lass uns verschwinden, lass uns verschwinden
Wir lösen uns auf, wir lösen uns auf
Lass uns verschwinden, lass uns verschwinden
Wir lösen uns auf, da kommt keiner drauf

18. August 2011

1993

Beim Immatrikulieren der neuen FU-Studierenden zum Wintersemester steigt beim Geburtsjahrgang 1993 in mir permanent ein Gefühl der Beklommenheit hoch, das M., als wir nach getaner Arbeit im Weinbergspark liegen von mir zaghaft erwähnt, mit einem süffisanten "Wir sind halt alt geworden" kommentiert. 1993, unvorstellbar das! Zehn Jahre nach meiner eigenen Geburt. 10 Jahre, mein Gott! Da konnte ich bereits schreiben, rechnen und alle 16 Bundesländer inklusive ihrer Hauptstädte auswendig. Da entwickelte ich langsam einen gesunden Skeptizismus den Erzählungen der Erwachsenen gegenüber, während die da, die jungen Nachfolger, noch in die Windel schissen. Die Pubertät lag zu diesem Zeitpunkt zwar noch lange vor mir, dennoch war ich der Volljährigkeit schon um Jahre näher als insgesamt noch vor jenen lagen bis sie selbst so alt würden wie ich es damals war. 1993 lässt mich seitdem den ganzen Tag nicht mehr richtig los, macht mich irgendwie wehmütig. In den Gedankenpausen dazwischen muss ich immer wieder auch ein bißchen selbstironisch über mich schmunzeln.

11. August 2011

Amnesiophobie

Diese mentalen Selbstüberprüfungen momentan. Morgens, mittags, abends und vor allem direkt vor dem Einschlafen. Und selbst in den Schlaf schleichen sich dann die Befürchtungen des Tages ein. Heute Nacht von wildesten Träumen unterbrochen, kocht immer wieder die Angst hoch, dass da eventuell nicht alles richtig läuft im Oberstübchen. M. berichtet, wie ich anscheinend begleitend dazu, kräftig das Bett durchwühlt habe und scheinbar dabei sogar Zähne geknirscht. Fehlt nur noch, dass ich demnächst anfange, schlafzuwandeln und wirre Disputationen abzuhalten. Dabei kann ich mich noch gut erinnern, dass mich diese unspezifische Angst vor Gedächtnisverlust, Amnesie, Demenz, dem Abbau geistiger Fähigkeiten, Einbußen in Formulierungsgeschick und sprachlichem Stil, ganz allgemein die Befürchtung eines zumindest partiellen Wahrnehmungsausfalls schon als Kind in so mancher Nacht in Schrecken versetzt hat und nicht richtig schlafen ließ. Und heute tagsüber geht das schon die ganze Zeit so weiter mit meinen merkwürdigen Phantasmen: Sobald mir ein Fremdwort oder Synonym nicht auf der Stelle einfallen will, helle Aufruhr und ein bißchen Panik. Sofortige Beruhigung dann, wenn die gedankliche Rückversicherung Früchte trägt und artig memorierte Ergebnisse abwirft. Zumindest profitiert mein Plan, Gedichte zu lernen, von der sorgfältigen Kontrolle und ständigen Selbstvergewisserung.

8. August 2011

Lebenssinne

Ich bin ein Mann, für den bestimmte Dinge von Bedeutung sind: Härte, Selbstdiszplin, Vernunft, das Streben nach allem, was edel ist, ohne auf die Krücke Gott zurückzugreifen. Das Ideal von Schönheit, die Aussicht auf Erhabenheit, der Geist. Ich bin: ein verheirateter Mann. Saladin Chamcha

Ich bin eine Frau, die vielen Dingen große Bedeutung beimisst: Selbstbestimmung, Hingabe, Ehrgeiz, Zerstreuung und im gleichen Maße Verstand sowie dem Streben nach allem, was edel ist und frei macht. Gott habe ich dafür argumentativ nie in Anspruch nehmen müssen. Das Ideal von Schönheit, Erhabenheit, der Geist. Ich bin: mir manchmal glücklicherweise etwas entledigt.

7. August 2011

Reisen






Während Regenlandschaft draußen vorbeizieht, die im Laufe der langen Zugstunden irgendwann von imposanten Kumulusformationen abgelöst wird, lerne ich, die mich sonderbar verwirrenden Satanischen Verse im Schoß, das Lesen immer wieder unterbrechend, Nietzsches Wanderer auswendig aufzusagen. Anlässlich eines selbstauferlegten Projektes, mir bis zum Ende des Jahres wieder ein einer Geisteswissenschaftlerin halbwegs angemessenes lyrisches Repertoire raufzuschaffen, werde ich das gute Dutzend dann zu Silvester hoffentlich jukeboxartig abspielen können.
Zwischendurch, in den Konzentrations- und Lesepausen, derweil Hot Chip süffisant in mein Ohr plärrt und Landschaft undefiniert vorbeischwebt, steht es mal wieder hell und klar vor Augen - ein fast schon Cartesianisches clara et distrincta -, die beständige Affirmation des Ichs durch rigide selbstdisziplinatorische Praxis in Bewegung gehalten, all das selbstverständlich stets gemischt mit ein wenig Sadomasochismus.

Und immer wieder diese Erinnerungsfragmente an die zu Beginn des Jahres gelesenen Reisejournale Willemsens. Heimgekehrt, dann normal nachgeschlagen und die betreffende Stelle gleich gefunden:
In der Nacht schwoll mein Knie so weit an, dass ich am nächsten Tag das Zimmer nicht verlassen konnte und an den folgenden Tagen auch nicht [...]. Die meiste Zeit lernte ich Gedichte auswendig oder blickte an die Decke [...]. Reisen, so kam es mir in diesem Moment vor, das war wie die Projektion der Heimat auf fremde Tapete. Dort findet man das Haus, das man verlässt und auslöscht, fühlt die Verankerung, die man vergessen machen wollte.


5. August 2011

Arm? Um Gottes willen! Sexy? Naja, geht so...

Woran erkennt man, dass man sich in Regionen mit hohem Lebensstandard bewegt? In Gegenden vorgestoßen ist, in denen Menschen zu Hause sind, die je mehr Geld sie besitzen, desto unauffälligerer Erscheinung sind. Man braucht nur die örtliche Sparkasse zu betreten und der Stückelungsstandard bei der Auszahlung des Bargeldes am Automaten spricht Bände. In Berlin wären Studenten, Hartz-IV-ler und sonstige Angehörige des Prekariats längst auf brennende Barrikaden gegangen, hätten sie sich mit einer Mindestauszahlung von 50€ konfrontiert gesehen. Dort, in meiner Heimat nämlich, habe ich mir in besonders knappen Monaten schon oft einen noch geringeren Mindestauszahlbetrag erträumt, weil das Konto keinen Zehner mehr für mich abwerfen wollte, einen Fünfer aber gerade so noch entbehren konnte. Hier, im wohlhabenden Vorort der bayerischen Hauptstadt, weiß der gemeine Bürger längst schon nicht mehr, wie der denn eigentlich aussah, dieser Belangloseste aller Scheine.

3. August 2011

Oder ists nur phantasey, die den müden geist betrübet?

Beim Versuch das Wesen des Melancholischen intellektuell aufzuspießen, führt Benjamin der Weg zu den Kontemplationen Aegidius Albertinus: Denn mit dem Melancholischen ist es "zu Anfang als mit Einem, den der tolle Hund gebissen hat: es kommen ihm erschreckliche Träume, er fürchtet sich ohn' Ursach. [...] Also vergehen ihm bei lebendigem Leibe die Sinnen, denn er siehet und höret manchmal nicht mehr die Welt, so um ihn her lebet und webet, sondern allein die Lügen, so der Teufel ihm ins Gehirn malet und in die Ohren bläst, bis er am letzten Ende anhebt zu rasen und in Verzweiflung vergeht.
Im konspirativen Bund stehe auch ich, seit ich denken kann, mit der Schwermut. Sie, die gedankenversunkene und so sehr abgewandte Seite der Bipolarität, die durch das Schreiben und die Grübelei hervorgerufen wird.