27. September 2011

Über Bücher in Büchern, Vol. 1

Nie, wirklich niemals könnte ich bei Verstand über mich bringen, was Chip, besessener Tittenfetischist und Protagonist in Franzens corrections, anrichtet. Jenen besagten Brüsten, zunächst noch angekleidet, nämlich derart häufig kulinarische Genüsse zu verschaffen, in der festen Hoffnung, die lästige Kleidung darüber würde sich vermöge der befriedigten Sättigung in Luft auflösen, dass die Liquidität irgendwann so sehr eingeschränkt ist, dass er Buch für Buch aus seinem Bücherregal zu eliminieren beginnt, um Julia, die Angebetete, die bis zu dieser Stelle des Romans außer Brüsten nicht viel auszeichnet, nur weiter ausführen zu können:
 
Dass er geglaubt hatte, seine Bücher würden ihm Hunderte von Dollar einbringen, war erbärmlich offenkundig. Er wandte sich von ihrem vorwurfsvollen Rücken ab und erinnerte sich, wie jedes einzelne von ihnen damals, in den Buchhandlungen, eine radikale Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft verheißen hatte und wie glücklich er gewesen war, sie nach Hause zu tragen. Aber Jürgen Habermas hatte nicht Julias lange, kühle Birnbaumbeine, Theodor Adorno nicht Julias traubigen Duft lüsterner Geschmeidigkeit, Fred Jameson nicht Julias geschickte Zunge. Bis Anfang Oktober, als Chip sein fertiges Drehbuch an Eden Procuro schickte, hatte er seine Feministen, seine Formalisten, seine Strukturalisten, seine Poststrukturalisten, seine Freudianer und seine Schwulen samt und sonders verkauft. Alles, was ihm noch blieb, um das Geld für ein Mittagessen mit seinen Eltern und Denise aufzubringen, waren seine geliebten Kulturhistoriker und seine gebundene Arden-Shakespeare-Gesamtausgabe, und da dem Shakespeare eine Art Zauber innewohnte - die uniformen Bände in ihren hellblauen Schutzumschlägen glichen einem Archipel sicherer Zufluchtsorte -, stapelte seine Foucaults, Greenblatts, Hooks und Pooveys in Einkaufstüten und verscherbelte sie komplett für 115 Dollar.
 
Ich weiß nicht, ob der Anzugträger, mir in der Bahn gegenüber sitzend, gemerkt hatte, dass ich mir auf die Zunge biss als meine Augen diese Stelle gestreift hatten. Er lächelte jedenfalls komplizenhaft. Vielleicht hatte ich vor lauter Erregung auch spontan vor mich hin gemurmelt, vielleicht sogar ganze Sätze meines Unglaubens artikuliert. Und all das für ein paar Brüste, unverständlich! Ich selbst würde, wäre ich derart versessen auf die Dinger, auf den minimalsten Auswuchs an Luxus verzichten, damit ich sie, meine über junge Jahre gesammelten Schätze, behalten kann: diese Gesamtausgaben von Nietzsche, Foucault, Cioran, Alexander von Humboldt, Kant, Barthes, Deleuze, Schopenhauer, Leibniz und Benjamin, diese monumentale Sammlung an philosophischen Einzelausgaben, die Schmuckausgabe der Essais von Montaigne sowie die zahlreichen Romane, Lyrikbände, Monographien, mindestens tausend an der Zahl. Ich würde meine elektrische Zahnbürste, meine WMF-Pfanne, meine teuersten Lederstiefel hergeben, um nur diese meine Zufluchtsorte unangetastet zu belassen. Sollte auch all dies nichts nützen, würde ich mich, freilich mit erheblicher Gegenwehr, in ähnlicher Reihenfolge trennen wie Chip. Vor den Marxisten würden jedoch die Freudianer daran glauben müssen und die Poststrukturalisten kämen genau wie die Kulturhistoriker erst am Ende zum Zuge.

24. September 2011

enlightened

Den eigenen Forschungsbericht für ein von der DFG eingestrichenes Stipendium mit Platon eröffnen und mit ordentlich Pathos folgendermaßen beschließen:
 
Vielmehr erstreckten sich jene Einsichten bis in die entlegensten Winkel der thematischen Schwerpunktsetzung im Kontext meines Studienabschlusses – im Fach Literaturwissenschaft etwa in Form einer detaillierten Auseinandersetzung mit dem Benjaminschen Konzept der Allegorie und ihrem schriftbildlichen Gehalt als errettendes Transformationsgefüge, in der alles „Geschriebene zum Bild drängt“. Ihr Einfluss wirkt infolgedessen bis in die gegenwärtige Konzeption meines Dissertationsprojekts, die unter dem vorläufigen Arbeitstitel Exzess und Exorzismus, den Fokus auf Lehre vom Zerfall legend, mit Blick auf das Gesamtwerk Émile Ciorans – ein poetischer Paroxysmus par excellence – in den exaltierten Aphorismen und Essays eine fragile ‚Metaphysik‘ freizulegen sucht. 
 
Danach: das Überwinden des Schweinehundes satyrhaft genießen. Fabelhafte Kreuzberger Jungs mit Fünftagebart auf ihren Rennrädern, vom Altweibersommerlicht schmeichelnd ausgeleuchtet, im Vorbeirauschen kurz anschmachten, ihnen kess entgegenzwinkern und ob der futuristischen Architektur ihres Sportgerätes bewundern. Eine Lenkergabel, die aussieht als wäre sie einem Klempner oder Rohrverleger entwendet worden.

22. September 2011

Das Sterben der Anderen

Ein leiser umso verheerender Schmerz als Gradmesser der Intensität einer Bindung. Ich bin erstaunt, welche kranken Nachtträume mein Hirn sich gegenwärtig zusammenreimt, welche Todesszenarien es ersinnt, um mir jenen Kausalzusammenhang dämmernd erfahrbar zu machen. Gleichzeitig bin ich verwundert über den krampfhaften Versuch, das Weinen zu unterdrücken, aus Angst es könnte bemerkt werden. Seit Montag andauernd, das.

17. September 2011

Wake me up when September ends - oder von der Kälte des Morgens

Über Nacht scheint klamm und heimlich der Herbst durch alle Ritzen gekrochen zu sein. Die Dielen unter den nackten Füßen fühlen sich kälter an als noch gestern. Ein Tuch um den Hals geschlungen und innerlich noch ein wenig zitternd steht der frsich gebrühte Pfefferminztee beim Schreiben aufgeschoebner Mails in meiner Reichweite. Und wieder einmal steht es mir vor Augen, der stille Startschuss ist gefallen. Wie jedes Jahr beginnt nun erneut die Zeit konzentrierter Arbeit, der letzten Schritte zum akademischen Titel, endet die Agilität, das sommerliche Aufbegehren, die Zerstreutheit. Dass ich das letzte halbe Jahr eigens dazu genutzt habe, dem Begehren des Leibes nach Herumtollen auf Rasenflächen zugunsten eines harten Broterwerbs zu opfern, sichert mir nun das Überleben - bei üppigem Leben vier Monate, bei karger Lebensform mindestens ein halbes Jahr. Und all dies theoretisch, ohne einen Finger zu rühren, auf eiserne Reserven zurückzugreifen oder gar ein Bankdarlehen in Anspruch zu nehmen. Dass es eine solche Zeit in meinem Studium je gegeben hat, in der ich weniger als 20 Stunden - meistens 30, zuletzt mindestens 40 - in der Woche gearbeitet hätte, dafür finde ich keine Anhaltspunkte in meiner Erinnerung. Dass ich daher lassen könnte, nebenbei noch etwas gegen Bezahlung zu tun, kann ich mir jetzt noch schwierig vorstellen. Dennoch habe ich alle Aufträge ab November strategisch ausgeschlagen, ermahne mich beim Blick in die Jobbörse des Career Service und tröste mich mit lockenderen Vorstellungen: Ich werde wieder bis die Nächte über Berlin hereinbrechen in Bibliotheken sitzen und all die ebenso lang studierenden Kommilitonen wiedertreffen, die ich im letzten Jahr so sehr vermisst habe, ich werde gleich zwei Squash-Kurse buchen, mich auf den Staffelmarathon auf dem Tempfelhofer Flugfeld vorbereiten, ich werde wieder mehr lesen, zwei hoffentlich drei Bücher die Woche und postmodern verstiegene Essayistik dazwischen. Ich werde mir einen lang gehegten Wunsch erfüllen und endlich Altgriechisch an der Universität lernen, bald darauf die Sophistes im Original lesen können und das Beste daran: Ich werde nur dann arbeiten müssen, wenn das Verlangen nach teurem Luxus es wirklich von mit verlangen sollte und dann selbst mit einem Minijob meine Bedürfnisse stillen können. Mit kindlicher Vorfreude warte ich nun nur noch auf die ersten bunten Blätter.

16. September 2011

Die kleinen Dinge

Statt wie früher ungedeckte Kreditkarten glühen zu lassen und immer mehr an und unter Klamottenbergen zu ersticken, während der Briefkasten Tag für Tag bunte Briefe aus seinem Inneren hervorzaubert, gehe ich momentan an den zahlreichen Konsumversprechen vorbei als hätte ich es nie anders gemacht. Ich bin erstaunt über diese in den letzten Jahren nie gefühlte Genügsamkeit und eine Gemütsverfassung, die ihre ehemalige Ventillosigkeit nicht mehr über die Sprache des Konsums austrägt und überhaupt neues Vokabular kennt: viel leichter loslassen statt krampfhaft besitzen wollen, rausschmeißen statt horten, Erleichterung statt Beschwerung. Wie wenig ich momentan ausgebe und wie einfach das eigentlich ist, sich in einer derartigen Askese zu üben. Um die Erfahrung gebracht, auf der impulskontrollgestörten Suche nach einem Schmerzenskompensator mit bis zum Hals pochender Sucht und von dem beklommenen Gefühl unter der Haut begleitet, das eigene Leben von der Wurzel an zu zerstören. Wie merkwürdig es sich anfühlt, wenn die Schulden plötzlich getilgt sind, für die seit Jahren nicht mehr genutzte Barclay-Card letztmalig 25€ abgebucht, die von 3000€ übrig sind, mich so wenig Post erreicht wie nie - nur noch Urlaubkarten, Wahlkampfflyer und IKEA-Kataloge. Welche Genugtuung  hingegen angesichts des Zaubers der kleinen Dinge: Zwei Stück Duftseife von Lush zum Beispiel oder eine in Leinen gebundene Ausgabe von David Copperfield für nur wenige Euro vom Bücherstand vor der HU. Wirkungsvoller, um Bedeutung geschwängerter Minimalluxus.

15. September 2011

Ästhetisierung der Armut

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Statt das Unvermögen großer Bevölkerungsanteile an gesellschaftlichen und ökonomischen Prozessen teilzuhaben endlich mal auf den Tisch zu bringen, wird Berliner Armut im Wahlkampf ständig ästhetisiert, verharmlost und veralternativisiert. So viel Sexyness, die sich bald nur noch ein Bruchteil zu leisten vermag.
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Heute dann dem Sommer endgültig Goodbye gesagt. Dies trotz prognostizierter 23° C am Wochenende durchgezogen. Kein Pardon. Dazu massenhaft Miniröcke, Babydolls, Hotpants, Wedges, Römersandalen und Fesselriemchen in Kisten gehievt, verstaut und jedes Mal tief melancholisch geseufzt beim Verschließen. Früheste anzunehmende Öffnung: April 2012.
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Heute morgen im Bett im SPON-Forum und parallel im Tagesspiegel fast zwei Stunden hitzige Debatten zwischen Autofahrern und Radlern verfolgt. Erstaunt über die Militanz der Streithähne. Kräftig genickt bei den folgenden Ausführungen

Das Grundproblem in den Großstädten ist sicher das Auto. Neben dem unglaublichen Dreck, Lärm und Gestank verursacht es vor allem einen gigantischen Flächenfraß, so dass für alle anderen Verkehrsteilnehmer nur noch ein kleiner Rest übrig bleibt, um den sie sich dann prügeln – weil er viel zu klein ist. Ein wenig rotes Pflaster, auf den Gehweg gezwängt, meistens zudem von Autos zugeparkt – so ist es in deutschen Großsstädten üblich – soll ein "Fahrradweg" sein... lachhaft. Da bleibt als Fahrradfahrer nur eins: man weicht auf die Straße aus. Wer ein wenig schneller als Schrittempo fährt, bringt auf diesen "Fahrradwegen" nur Fußgänger und sich selbst in Gefahr.


Autofahrer hingegen... oh je. Zunächst kann man im Berufsverkehr schön beobachten, dass in fast allen Autos nur eine Person sitzt, die sich darüber wundert / ärgert, dass die Straße zu voll ist – weil andere dasselbe tun. Dementsprechend hilflos und aggressiv wird auf die Fahrradfahrer losgegangen, die an den endlosen Blechlawinen vorbeiradeln: man wird rausgedrängt, geschnitten, ausgebremst, angehupt, angepöbelt. Dass man als Fahrradfahrer dabei nicht selten in Lebensgefahr gebracht wird, weil man kein schützendes Blech um sich herum hat, scheint den durchschnittlichen Autofahrer nicht zu interessieren.


Die Verkehrspolitik in Deutschland ist immer noch von vorgestern, in erster Linie auf Autos ausgerichtet. Fast schon traumhaft kommen einem da Städte wir Amsterdam mit ihren weitaus fortschrittlicheren Verkehrskonzepten vor. In Berlin oder Hamburg oder München hingegen: eine einzige Katastrophe.


und dann doch in leise Zweifel verstrickt. Was wäre, wenn sich bei unveränderter Verkehrspolitik und städtebaulichen Gegebenheiten noch mehr Personen entscheiden, morgens das Rad für den Arbeitsweg zu nutzen? Schon in diesem Sommer war mir das ständige Rumgeeiere der Vordermänner/-frauen - besonders bei mittelalten Prenz'l Bergerinnen gern gesehen - wirklich unerträglich. Verlangsamte es nicht nur meine Fahrt erheblich, sondern schlug mir auch überaus heftig aufs Gemüt.
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Zu allem Überfluss hat sich irgendein Witzbold meiner Laufschuhe bemächtigt, die ich zum Auslüften vor der Haustür parkte. Seitdem schmiede ich perfide Mordpläne.

11. September 2011

Noch einmal leben...


In einem Land vor unserer Zeit trägt mein Opa meine kleine Mama durch die Gartenanlage spazieren. An einem sonnigen Tag in sehr ferner Vergangenheit schreitet er durch Schattenspiel und Herbstlicht über den Boden eines Land, das längst nicht mehr existiert.
Den Kopf voller Gedanken springe ich am Bahnhof Friedrichstraße aus dem Regionalzug in die Straßenbahn nach Hause. Ich kenne jeden Abschnitt, jede Kurve entlang der Strecke. Selbst mit geschlossenen Augen wüsste ich jederzeit, wo ich mich gerade befinde. Eingelullt von einem monotonen Geschaukel, während die warm beleuchtete, regennasse Großstadt gemächlich vorbeizieht, legt sich eine sanfte Schwere über die müden Lider. Und während ich das Wochenende innerlich Revue passieren lasse, fallen mir dutzende gewechselter Sätze wieder ein. Wie ich meine Mutter in etwas rührigem Tonfall in der Nacht auf dem Rückweg in den Garten der Großeltern unter einem fahlen Septembermond gefragt habe, wie und ob sie sich noch gut an ihre Kindheit erinnern könnte, sie mir daraufhin Bericht erstattete und sich in meiner Gegenwart selbst an vergangene Zeiten erinnerte. Auf ihre Gegenfrage hingegen antwortete ich, aus Angst meine Stimme könne den Grad meiner Bewegtheit preisgeben, eher kurzatmig. An vieles erinnere ich mich jedoch sehr genau, insbesondere wie beschützt und abgeschottet meine Kindheit verlief und nicht wie die ZEIT in einem ihrer Leitartikel diese Woche konstatiert, mit spätestens zehn Jahren endete. Gehörte ich doch zu denjenigen, die auch im höheren Alter noch mit einem Teddy erwischt worden wäre und wirklich sehr lange noch kindlich spielte. An die absolute Versunkensein in diese reiche Welt der Phantasie, die damals absolut nichts trüben konnte, an die radikale Selbstverlorenheit erinnere ich mich mit einer nahezu mikroskopischen Präzision. 
Nachts dann schlief ich in der Wohnung der Großeltern zum ersten Mal seit anderthalb Jahrzehnten wieder mit meiner Mom in einem Bett. In der Morgendämmerung erwacht und im anschließenden Halbschlaf etwas gefürchtet davor, dass dieser Mensch, da neben mir liegend, atmend, einmal sterben wird, noch lange hin aber unausweichlich. Und auf dem letzten Stück Heimweg, beim Durchqueren des Weinbergparks im strömenden Regen, die flüsternden Worte meines Opas beim Betrachten alter Fotos, dem Archiv familiärer Erinnerungen, im Ohr: "Noch einmal leben".
Eine Melancholie, die mich auf einmal intensiv erfasst, mich an unzählige Heidegger-Lektüren denken lässt, wie mich, zwanzigjährig, der zweite Teil von Sein und Zeit - das Sein zum Tode, die Zeitlichkeit des Daseins und seine Entschlossenheit - nicht nur intellektuell zum Erbeben brachte. 
Und, die Allgegenwärtigkeit des Todes im Leben, das Eingedenksein des Endes im Anfang, immer wieder an Hesse: Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

6. September 2011

Whose woods

Henry James in einem Brief an seine Söhne: "Einem jeden, der zumindest den geistigen Kinderschuhen entwachsen ist, dämmert der Verdacht, daß das Leben keine Farce ist, daß es nicht einmal eine elegante Komödie, daß es im Gegenteil aus den tiefsten tragischen Tiefen des essentiellen Mangels erblüht und Frucht trägt, jenes Mangels, in den die Wurzeln seines Gegenstandes versenkt sind. Das natürliche Erbe eines jeden, der eines geistigen Lebens fähig ist, ist ein ungezähmter Wald, in dem der Wolf heult und der obszöne Vogel der Nacht plappert."
Von dort, wo des Waldes Dickicht einem glanzlosen, ganz und gar gezähmten Eden weicht, von dorther bin ich gekommen, ein wenig vergiftet inzwischen von den bitteren Äpfeln, die ich als Reiseproviant von den Ästen gepflückt hatte und deren Gehäuse ich achtlos in das Gras warf. Des geistigen Lebens fähig, gebäre ich seitdem täglich hundertköpfige Schimären. Degenerierte Surrogate eines Geistes, der Wurzeln im Diffusen des Unterholzes schlägt anstatt dem Licht der Krone entgegenzuwuchern.

3. September 2011

Beyond facebook

Bisher lief die Kommunikation zwischen mir und den vielen Menschen in meinem Leben immer reibungslos. Ich besitze ein Mobiltelefon aus der Belle Époque (kein Smartphone), eine private und vier dienstliche Mailadressen und ein Festnetztelefon, auf dem man mich zwar nienienie erreicht, auf dem aber ein Band alle Beteuerungen und Rügen artig aufnimmt und für den späteren Konsum bereitstellt. Auch ohne facebook glückten Kontaktaufnahmen, Einladungen und kurze Grüße bisher. Zugegeben, manchmal musste der Adressant in Hinblick auf meine facebook-Totalverweigerung minimalen Mehraufwand betreiben, musste den Mail-Client öffnen, meine Adresse eintippen und einen kurzen Text erzeugen bzw. per Strg+C-Strg+V aus dem Gesichterverzeichnis transferieren. Das klappte ohne größere Reibungen. Zwar wurde die Namensfülle des Adressfeldes (sofern nicht BCC) in jenen Mails über die Monate und Jahre immer stärker dezimiert, da alle Skeptiker freilich aus pragmatischen Erwägungen (Kontakte schnell und einfach halten, besonders aus dem Ausland und man kann alles auch anonym stellen, blablabla) inzwischen in den Antlitzverein übergetreten waren, ich, jene von den kostbarsten Plapper-Strömen Abgeschnittene, erhielt ohne viel Federlesens dennoch immer Kunde, welche Events unbedingt anzusteuern waren und welches Paar heiratete oder Kinder bekam. Manchmal per Mail, oft jedoch durch einen Anruf oder eine SMS. Das Leben der übrigen Klassenkameraden, langweiligen Kollegen oder einstigen Affären interessiert mich ehrlich gesagt nicht, ich will mich mit diesen weder vernetzen, noch austauschen, weder auf deren Hochzeiten erscheinen, weil sie keine anderen Freunde haben, noch mit ihnen 30 werden. Das ist mir irgendwie zu doof. Mit den geliebten Mitstreitern in meinem Leben gestaltet sich die regelmäßige, aber wirklich interessierte Kontaktaufnahme eh schon schwierig genug. Und wie mein Leben beweist, hatten mehr als 15 Freunde (nicht Bekannte) gleichzeitig nie wirklich Platz darin. Auch bei dieser übersichtlichen Zahl fühlte sich immer schon einer unter ihnen zu kurz gekommen und forderte Aufmerksamkeiten ein, die ich nicht bereit war zusätzlich aufzubringen. Alles darüber, bei dem Pensum an Sport, Akademie und Broterwerb, eine Entäußerung von Kräften, reine Selbstausbeutung und dies alles bei meinem dringenden Bedürfnis in den Atempausen auch mal den schweren Gedanken nachzuhängen, ohne dass ständig einer stört.
Doch gestern abend schlichen sich kleinste Zweifel in das holde Abstinenzlerglück als ein guter und alter Freund von M. und mir seinen Geburtstag im Kreuzbergischen begoss und wir abends durch die anwesenden, freilich vernetzten Freunde unseres Fehlens gescholten, erst Wind von der Sache bekamen, die uns facebook vorenthielt. Da weder M. noch ich dieses Opfer der Anmeldung zum Zwecke künftiger Vernetzung unverzüglich auf sich nehmen wollten und weil uns die Arbeitswoche dermaßen gefickt hatte (Berliner Idiom), nahmen wir rentnergleich vorlieb mit Süßem und Bett.