27. August 2013

Brief an die Mutter



...Wenn ich da ganz ehrlich bin, wird die Philosophie bei den engagiertesten Lehrerplänen insgeheim immer meine heimliche Passion bleiben, sonst hätte ich wohl nicht auf derart abenteuerlichen Umwegen zu ihr gefunden. Bis heute wirkt ihr verführerischer Zauber, dem ich mich nicht entziehen kann. Dennoch bin ich inzwischen immer mehr der Überzeugung, dass ihre akademische Institutionalisierung, der unbedingte Publikationszwang und die damit verbundene Verflachung von Inhalten, ihre Ausrichtung nach intellektuellen Moden und ihre unbeholfenen Anbiederungsversuche mit den faktischen Wissenschaften (Logik, Neurobiologie, Informatik, Linguistik) meine Kreativität dauerhaft abgetötet und mich als wissenschaftliche Mitarbeiterin sehr unglücklich gemacht hätten. Ganz zu schweigen von den prekären Zukunftsaussichten unserer Gattung der "Vollblut-Intellektuellen" (Hartz IV, Befristungen, unbezahlter Lehrzwang) und der Versklavung im Zeichen renommierter Forschungsvorhaben mittels Knebelverträgen, welche die täglichen Frondienste den zweifellos wohl alimentierten Lehrstuhlinhabern gegenüber arbeitsrechtlich rechtfertigen und zementieren. Freie Wissenschaft unter diesen Umständen? Ich geb' mich da keinen Illusionen mehr hin.
Das Fach Ethik (Klasse 7-10) bzw. Philosophie (Klasse 11-12) werde ich wohl im Übrigen (weil es auch hier berlin- und bundesweit an ausgebildetem Personal mangelt) zusätzlich zu den Fächern Deutsch und Latein unterrichten können. Und was spricht, hat sich das ganze Lebensmodell erst einmal eingespielt, bei 76 Urlaubstagen eigentlich gegen das eine oder andere Blockseminar, was man zusätzlich an der Universität anbieten könnte? Ohne den beständigen Druck, den eigenen Lebensunterhalt dadurch bestreiten zu können/müssen. Aus einer derart abgesicherten, ja, privilegierten Position, finanziell von dem System Universität unabhängig zu sein, ließe sich dann ggf. nochmal neu über den Erwerb eines Doktortitels und etwaige Veröffentlichungen nachdenken. Die müssten dann aber unbedingt in die Tiefe gehen und Philosophie als jene Tätigkeit zu profilieren suchen, die sich keinem anderen Interesse als dem aufrührerischen, grenzüberschreitenden und experimentellen Denken selbst verpflichtet sieht.
Du siehst, die Dinge kommen nach einer langen und unerträglichen Phase der Lähmung auf wundersame Weise wieder in Bewegung. Resignation und Stagnation weichen Zuversicht und ungeheurem Tatendrang und dahinter erkenne ich mich selbst endlich wieder und habe allmählich eine Idee davon, wie ich mein Leben von nun an gestalten möchte. Der Grundstein jedenfalls ist längst gelegt. Und dies alles? – Steht es vielleicht in einem geheimen Bund mit der 30, der man schon so manch' magische Kraft nachgesagt hat? Who knows?

Mit Haut und Haar in die lateinische Satz- und Formenlehre vertieft und voller Vorfreude!
C.

Memorandum

Ich liebe dich.
Und ganz egal.
Der Winter kommt.
Ein warmer Schal
Ist besser als ein kalter.
Ich bin zu hässlich für mein Alter.
Du bist zu schön.
Und das vergeht.
Das ist nicht neu.
Nichts bleibt, nichts steht.
Ein Lada steht im Parkverbot.
In hundert Jahren sind wir tot.
Am Montag, den 26. August 2013, ist Wolfgang Herrndorf gestorben (www.wolfgang-herrndorf.de).