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27. März 2023

janusköpfig – Manie, vol. I

 "Immer, wenn ich auf den Fotos nicht mehr den Unterschied zwischen deinen Schüler*innen und dir als ihrer Lehrerin erkennen kann, weiß ich, was los ist, wollte als deine Freundin aber nicht sofort den mahnenden Zeigefinger erheben", schreibt mir die V. mit ein wenig Verzögerung von der Insel, nachdem sie offensichtlich meine Gruppenbilder der Mottowoche gesichtet hat. 

Ich: täglich kostümiert, wahlweise in Mermaidpose, Huckepack, von meinem Leistungskurs auf Händen getragen, Standwaage, Vrksasana, Plank, springend, liegend, posend, Zunge raus, Sonnenbrille, Victory-Zeichen, breite Schultern. My gosh!

Wenn alle Grenzen verschwimmen und der manische Teufel mich reitet, dann hat der eine Kopf des Ianus die Überhand gewonnen und flieht ungestüm voraus, die Existenz des zweiten annullierend.

Exzessive Ausgelassenheit und intensive Emotionen erscheinen bei mir stets als trügerisches Vexierbild, tragen sie doch schon immer einen pathologischen Keim in sich. Echte, unzweifelhafte, gesunde Freude: ein unsicheres, ungesichertes Terrain. 

Beim allmählichen Runterkommen in den letzten Tagen mehrmals darüber geweint. 

Meine unbändige, gefährliche, illusorische, vergiftete Freude.

19. März 2023

δαίμων

Schon seit Wochen fliegen die Sprachnachrichten zwischen V. und mir zwischen Sylt und Berlin wild hin und her. Wir sind im Flow, blicken uns gegenseitig in die Seelen. Finden viele Gemeinsamkeiten. Im Mittelpunkt unserer Mixtur aus Text- und Sprachnachrichten steht zuletzt die Beschäftigung mit dem inneren Kritiker, wie es in der marketingaffinen Awareness-und Selfcare-Psychologie heute so heißt.

Ich funke also präzisierend auf die Insel:
Irmela (aus einer traumatischen Erfahrung Anfang 20 an der Uni hervorgegangen), hart und wenig herzlich, leistungsorientiert, traditionalistisch, erfolgshungrig, ehrgeizig, belastbar, perfektionistisch, immer fordernd, ganz und gar ungnädig, die mir in variierender Stärke und Frequenz mit folgenden Tiraden ihre vergifteten Stachel ins Fleisch bohrt:

"Mit fünf Prädikatsexamina hätte wirklich mehr aus dir werden können und sollen!"
"Du wirst es nie schaffen, dir eine bürgerliche Existenz aufzubauen!"
"Du hattest einfach nicht den Mut und das Format für eine wissenschaftliche Karriere!"
"Dein Lebensstil ist nicht wild, sondern einfach nur altersunangemessen und peinlich!"
"Gib nicht dauernd Geld aus!"
"Spare 1500€ im Monat!"
"Deine Leidenschaften werden sich nie befriedigen lassen und du wirst immer weitersuchen, jedoch nichts finden!"
"Du bist eine selbstverliebte Narzisstin!"
"Dein Unterricht könnte noch viel innovativer sein!"
"Du musst die Arschbacken zusammenkneifen und durchhalten!"
"Langsam sind alle Züge in deinem Leben abgefahren!"
"Du solltest den nächsten Karriereschritt erwägen! Einfach nur Lehrerin sein, kann jede Loserin!"
To be continued...

Mein Daimon rät niemals ab, sondern immer nur zu. Es ist kein Sokratischer Daimon der Apologie, des Phaidros oder Euthydemos. Vielmehr scheint sein Wesen dem letzten Höllenkreis aus Dantes Inferno zu entstammen.

9. März 2023

Epistulae ex Ponto: Geistige Heimat

Was ich insgeheim betrauere, ist nicht die Entscheidung selbst. Den Weg in eine andere Richtung eingeschlagen zu sein damals. In eine weniger akademische, lebensweltlichere, pragmatische. 

Es geht mir alles recht leicht von der Hand. Ich habe Zauberkräfte, wird gesagt. Man hängt an mir und braucht mich. Ich kann begeistern. Ich bin überzeugt: Niemand merkt etwas. Ich habe eine zweite Familie gefunden. Einen Beruf, eine neue Berufung.

Nur manchmal, im Schein der Schreibtischlampe am Abend, über die Abikorrekturen gebeugt, beim Aufschlagen der Essais, wenn der SWR Reiner Niehoffs Versuche über den Schatten ausstrahlt, Melanie Möller in der NZZ wortreich über die Metamorphosen und die Heroen der Aeneis fabuliert, mir eine vor Jahren verfasste Notiz zu Batailles Begriff des Verfemten in die Hände fällt oder zu Nietzsches Fatalismen, dann sticht es kurz. Dann wiegt der Verlust der alten Heimat kurz schwer, dann erheben sich Tristia in mir.

Noch lange nach der Zweiten Staatsprüfung, längst im Beruf angekommen, täglich im Klassenzimmer, mit einigen Funktionen betraut, ein stets voller Schreibtisch daheim und fest eingespannt in das schulische Hamsterrad, war mir die Vorstellung ganz und gar unheimlich, nicht gleichzeitig, parallel zur Vollzeitexistenz, an einer Berliner Hochschule immatrikuliert zu sein. Der akademischen Welt von nun an nicht mehr zuzugehören, von meiner alma mater entbunden worden zu sein...


hic ego, finitimis quamvis circumsoner armis,

tristia, quo possum, carmine fata levo.

quod, quamvis nemo est, cuius referatur ad aures,

sic tamen absumo decipioque diem.

10. September 2014

Eierlikör

Auch die Nachricht, dass sie am Vorabend ihres Todes mit meinen Tanten in ihrem alten Haus würfelnd beisammensaß, nachdem jene sie auf ihren Wunsch nach Hause geholt hatten, und sich im Laufe des Spieles auch ein Gläschen Eierlikör munden ließ, lässt mich immer wieder schmunzeln, so traurig ich bin. Überhaupt strömen die vielen Bilder und lebendigen Erinnerungen, die ich längst vergessen glaubte, nur so aus mir hervor: Die skurrilen Gruselgeschichten, die sie mir vor dem Einschlafen erzählte und die manchmal solch' grobe narrativen Mängel aufwiesen, dass wir beide lachen mussten, ehe sie auserzählt waren. Das schwere Federbett, in das ich dick eingemummelt neben ihr lag, in dem wir morgens NDR1 hörten und auch der Nachttopf neben dem Bett, damit mir in der Nacht die dunkle Treppe erspart blieb. Unzählige Nachmittage mit meinen Eltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen in ihrem Garten unter einem endlosen Sommerhimmel, das Kohleschippen und ihre stets im ostfälischen Börde-Platt verpackten Erzählungen von der näherrückenden Ostfront, dem Ende des Krieges und dem Wiedersehen mit meinem Opa, der Anfang der 60er-Jahre starb als mein Vater noch ein Kleinkind war. Diese auf den ersten Blick immer etwas konfus wirkenden, verschachtelten Ausfächerungen und Verzweigungen erzählten Lebens, deren Zusammenführung ihr trotz des 90. Lebensjahres bis zum Ende routiniert gelang – vielleicht auch das von ihr geerbt. In den letzten Jahren waren sie immer häufiger mit dem Aufruf gespickt, der liebe Gott möge das Nachsehen haben und sie nach einem derart langem und randvollen Leben endlich zu sich holen, denn genug sei nun einmal genug. 
Vor allem aber ihr aufbrausender Charakter, der cholerische Grundzug, den selbst das Alter nicht abzumildern im Stande war, der sie das Besteck oder Geschirr auf den fast gedeckten Abendbrottisch schmettern ließ, wenn ihr irgendetwas nicht passte, ist es, der sich zweifelsohne sowohl bei meinem Vater als auch bei mir wiedererkennen lässt, der selbst im ungestümen Wesen der kleinen L. durchzuscheinen beginnt und auf eine seltsame Weise und über den Tod hinaus ein unauflösliches Band zwischen uns knüpft.

9. September 2014

Oma

Vier Schnaps, ein Bier und eine durchwachte Nacht später den ganzen Tag über, auf dem Weg in die Schule und auf dem Heimweg, zwischen den Unterrichtsstunden und der heimischen Vokabelplackerei mal still, mal lauter, mal verzweifelt geweint. Vor allem schmerzt mich, dass ich sie vor fast anderthalb Jahren mit der fast noch frischgeborenen L., ihrer Urenkelin, im Schlepptau das letzte Mal sah und seitdem die Chance nicht mehr ergriffen hab, sie, bevor sie am Samstag gestorben ist, nochmal zu besuchen. Das einzige, was mich ein bisschen tröstet: die Tatsache, dass sie nicht auf harten Liegen und in sterilen Zimmern monate- vielleicht sogar jahrelang herumvegetieren musste, dass ihr zumindest diese letzte Würde geblieben ist, dass zwei ihrer Kinder (mein Onkel und meine Tante) sie in den letzten Stunden begleitet haben und sie nicht alleine gewesen ist. Seit langem auch wieder diesen Schmerz gespürt, der alles zusammenschnürt, diese Enge in der Brust, die mich kaum atmen lässt. Und immer wieder auf dieses Foto geschaut: Sie, lächelnd und den Arm um mich gelegt, ich, fast vierjährig auf einem Geschenkband herumknabbernd neben ihr auf dem Sofa sitzend. Genau beäugt von der Katze, die auf einem Kissen unter dem lamettageschmückten Baum sich platziert hat. Wann immer gerade mein Blick darauf fällt, trotz der unzähligen Stiche im Herzen auch eine unbeschreibliche Wärme bei dem Gedanken verspürt, wie lieb sie mich einmal gehabt hat und wie lieb sie mir war und ist.

4. September 2014

Sentimentalitäten

"Weil ich schon keinen Papa mehr habe", flüstert die 8-jährige A., während ich mit den Korrekturen ihrer Deutschaufgaben beschäftigt bin, halb zu mir, halb zu ihrem Tischnachbarn, dem O., "werde ich ganz allein sein, wenn die Mama mal stirbt. Nur die Zwillinge werden dann noch bei mir sein." Es trifft mich mitten ins Herz. Vier Tage erst her, seit ich das erste Mal ihre Klasse betrat. Vier Tage und schon fängt man an, die so gern zu haben, dass man sich jetzt schon wappnet für den Moment, wenn man sie in naher Zukunft schon wieder verlässt. Welche Stille dann einkehren, wenn der Winter ganz den Büchern vorbehalten sein wird, verglichen mit dem quirligen Kichern, Murmeln, Flüstern, Necken, dem permanenten Bewegtsein von 29 Grundschülern. Bereits die K. und die J. hatten mir in einem gruppentherapeutischen Seminar für angehende Lehrer in weiser Voraussicht prophezeit, dass ich bei jedem Abijahrgang, jeder Klasse, die ich verabschieden muss, weinen würde und ich glaube immer mehr, sie könnten rechtgehabt haben.

23. August 2014

Auf der Kippe

Dieser Tage, während ein kurzer, zuletzt immer kühlerer Sommer sogleich fast unmerklich in den Herbst hinübergleitet und mir morgens, wenn ich kurz nach sieben das Haus verlasse, auf dem Weg zur Kita, auf dem Rad von Mitte nach Schöneberg oder nach Dahlem ein frischer Gegenwind als Vorbote kürzerer Tage entgegenweht, schlägt die Melancholie, meine janusköpfige Begleiterin, mit voller Breitseite zu. Vieles, denke ich so bei mir, schon längst vorüber, die rauschendsten Feste gefeiert, allzu wenig noch übrig von den einmaligen Erlebnissen, die eine (späte) Jugend so bietet. Inzwischen nämlich nahezu alle Jungfernfahrten erlebt und abgehakt: leidenschaftliche Lieben, (nächtliche) Exzesse, Tiefpunkte, Krisen, Bildungsabschlüsse, Berufstätigkeit, Familiengründung: alles bereits zum ersten Mal (meist zur Genüge) getan und gehörig Pulver dabei verschossen. Permanente Abwechslung, Haltlosigkeit, ebenso das Gefühl, stets auf dem Sprung zu sein, nun täglichen Routinen gewichen, die alles auch dann noch funktionsfähig zusammenhalten, wenn es innen drin heftig zu wanken beginnt und der alte Schlund sich öffnet.
Auch die tägliche Gewissheit eines allmählichen Verfalls des Äußeren beim spitzfindigen Blick in den Spiegel momentan eher schwer zu ertragen. Besonders beim Gedanken, den Zenit der eigenen Attraktivität – wie überhaupt: den Höhepunkt des Erlebbaren – schon überschritten zu haben und mich gefragt, was neben der passionierten Ausübung eines Berufs jenseits des 30. Lebensjahres an deren Stelle treten könnte. Der Genuss am mit den Jahren sicher größer werdenden finanziellen Spielraum in Hinblick auf den Verlust der Spontaneität und Intensität der früheren Jahre hingegen schon immer ein eher schwacher Trost. Dabei eine immer tiefer wuchernde Zornesfalte zwischen den Augenbrauen neu entdeckt und seitdem immer wieder verflucht und inbrünstig hassen gelernt, dieses Kainsmahl mimischer Ausschweifung.
Demgegenüber wird das aufkeimende Hadern mit dem Lauf der Dinge einzig durch die hinzugewonnene Solidität des eigenen Standpunkts mit ihrer Unangewiesenheit auf allerhand Vorgelebtes, an dem man sich zu orientieren hätte, durch eine wachsende Souveränität durchkreuzt, an die noch in den kürzlich verabschiedeten Zwanzigern nicht zu denken war. Im gleichen Atemzug die Fähigkeit angeeignet, die gefühlt immer schneller davonlaufende Lebenszeit – das möbiusbandartige intellektuelle Kaprizieren auf diese unabwendbaren Tatsachen davon einmal ausgenommen – schätzen zu lernen, und Nebensächlichkeiten und Animositäten angesichts der Kostbarkeit der Tage darin insgesamt weniger Stellenwert einzuräumen. Stets mutig sein und würdig altern, müsste man, plätschern die Gedanken so vor sich hin, während ich, das Gesicht dem Fahrtwind ausgesetzt, den Kragen noch etwas höher schlage, denn heute morgen liegt bereits ein erster Hauch von herannahendem Winter in der Luft.

12. August 2014

Hebt die Gläser auf John Keating!

O Captain my Captain! our fearful trip is done; The ship has weather’d every rack, the prize we sought is won; The port is near, the bells I hear, the people all exulting, While follow eyes the steady keel, the vessel grim and daring:
But O heart! heart! heart!
O the bleeding drops of red,
Where on the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.
O Captain! my Captain! rise up and hear the bells; Rise up—for you the flag is flung—for you the bugle trills; For you bouquets and ribbon’d wreaths—for you the shores a-crowding; For you they call, the swaying mass, their eager faces turning;
Here Captain! dear father!
This arm beneath your head;
It is some dream that on the deck,
You’ve fallen cold and dead.
My Captain does not answer, his lips are pale and still; My father does not feel my arm, he has no pulse nor will; The ship is anchor’d safe and sound, its voyage closed and done; From fearful trip, the victor ship, comes in with object won;
Exult, O shores, and ring, O bells!
But I, with mournful tread,
Walk the deck my Captain lies,
Fallen cold and dead.
 
Walt Whitman

11. August 2014

Unter der Oberfläche

Neulich saßen der M., ein treuer Begleiter aus meinem ersten akademischen Leben, und ich in einer lauen Sommernacht auf seinem kleinen, aber minder feinen Balkon mit Blick auf die Yorckstraße. Das letzte Sonnenlicht über der Stadt fast verglommen, die Nacht zwischen den verwischten Hufschlägen von Phoebus' Feuerrössern beinahe eingebrochen am Horizont, sprach er, orchestriert von dem dramatischen Leuchten, so luzide und bewegend über eine unglückliche Liebe, dass mir ein Bild ganz besonders in Erinnerung blieb. Sie, jene Geliebte, hätte für ihn vor allem deswegen eine derart begehrenswerte Ausstrahlung gehabt, der er unverzüglich verfallen war und die ihn schließlich um den Verstand brachte, weil ihre gesamte Erscheinung eine Emotionalität durchscheinnen ließ, die nur unter einer hauchdünnen Oberfläche verborgen lag. Dann – und in meiner Vorstellung – unvermeidlich auf ihn übergriff, ihn in Brand setzte, auflodern und verbrennen ließ...Das fand ich auf eine ziemlich verwegene Art und angestachelt von diesem Sommernachtsrausch, der vom Berliner Asphalt in die Lüfte dampft, dann doch ziemlich romantisch.

9. August 2014

Transzendenz

"Und wo bleibt da in deinem Leben die Transzendenz?", hatte der Ch. mich neulich nach dem Abendessen bei ihm zu Hause scharf zurechtgewiesen, nachdem ich sein nächtliches Bekenntnis zum Göttlichen, während der S. ihm argumentativ nicht von der Seite wich, mit dem ein oder anderen flapsigen Kommentar gewürdigt hatte. Der Ch. versteht sich nämlich ausdrücklich nicht als ein Anhänger einer Konfession, hält ein Leben ohne ein übergeordnetes Prinzip aber schlichtweg für allzu trostlos.
Wie also leben ohne diese Vorstellung? Als Relativistin, Skeptikerin? Schon manches Mal nächtens wachgelegen und oft diese Angst verspürt, die an der Wurzel der Existenz rührt. Schmerzlich immer wieder konfrontiert mit dem Blick auf das unausweichliche Ende: "le repos entier est la mort". Empfänglich für letzte Fragen war ich immer, eines rettenden Gottesbeweises entbehre ich allerdings bis heute, wahrscheinlich für immer. Der Mensch – ach, Pascal! – nur ein fragiles Schilfrohr, das denkt: "L'homme n'est qu'un roseau, le plus faible de la nature; mais c'est un roseau pensant. Il ne faut pas que l'univers entier s'arme pour l'écraser: une vapeur, une goutte d'eau, suffit pour le tuer."
So bleibt einzig abgezählte Lebenszeit und ein Drittel, vielleicht auch die Hälfte davon schon rum. Meine Mutter spricht seit ein paar Jahren (ihrem fünfzigsten Geburtstag etwa) von ihrem Lebenskalender, der Tag auf Tag weniger Blätter bereithält bis schließlich irgendwann das letzte Blatt abgerissen wird und auch mein Vater, in Bezug auf den eigenen Tod immer mit einer erstaunlichen Abgeklärtheit gesegnet, gibt zu: "Wenn es soweit ist, werde ich heulen wie ein Schlosshund."
Werde ich weinen, schreien, ruhig sein?
Vorerst nichts als leere Taschen, was die Überfahrt ins gottlose Jenseits, ins Dunkel, ins Nichts betrifft, und die Gewissheit, dass alles abgefackelt werden muss im Hier und Jetzt, bevor das Licht ausgeht. Intensität, mein Elysium! Vielleicht daher der Hang zu pathetischem Wort, zu langen Nächten, Verzweiflung, Verausgabung, Exzess. Das leise Atmen der kleinen L., der ich in der Kühle der Nacht schnell noch die Decke um die Beine schlage bis ich selbst in die Kissen falle. Die, in ruhige Träume gefallen, noch nichts ahnt von Ausgeliefertsein und Sterben.

15. Oktober 2013

sunrise 12/24/81 - sunset 10/29/09

Don't think of me as gone away
my journey's just begun,
life holds so many facets
this earth is only one.

Just think of me as resting
from the sorrows and the tears
in a place of warmth and comfort
where there are no days and years.

Think how I must be wishing
that you could know today
how nothing but your sadness
can really pass away.

And think of me as living
in the hearts of those I touched...
for nothing loved is ever lost
and F. was loved so much.


Diese kleinen Erinnerungen an Dich. Ein Lesezeichen, das mir heute Morgen in die Hände fiel. Darauf Dein Foto, der Tag Deiner Geburt und der Deines Todes. Überbleibsel eines Abschiedes, das unter dem verwüstendem Schmerz, dem nie gekannten, nahezu in Vergessenheit geraten war. Schon bald vier Jahre her, dass ich aus der Zeit gefallen bin. So begleitest Du mich auf Schritt und Tritt. Und auch, wenn es ein wenig makaber scheint, zwischen die Seiten altsprachlicher Kompendien, Repetitorien und Lexika geklemmt, hätte es Dir auf (D)eine eigentümliche, verschmitzte Art irgendwie gefallen, da bin ich ganz sicher. Nachdem Du starbst damals, habe ich die Uni lange nicht mehr betreten. Nun studiere ich wieder dort, wo wir noch kurz vorher umringt von Herbstlaub zwischen zwei Seminaren auf einer Bank saßen und scherzten. Ein großer Regentropfen an Deiner Nasenspitze und schwarzer Kaffee in Pappbechern, dies eines der letzten Bilder von Dir. Von uns. Dann lange dunkel. Heute in der Bahn kurz geweint; seit langem. Über die vier Jahre, vor allem aber über diese wunderbare Tochter, die Du nicht mehr kennenlernen konntest. Welcher, wann immer ich ihr von Dir erzählen werde, als Referenz nur ein paar Fotos geblieben sind, die sie mit Dir verbinden wird. Doch noch immer: Alles Bewegtbild, alles lebendig in mir. No days, no years.

27. August 2013

Memorandum

Ich liebe dich.
Und ganz egal.
Der Winter kommt.
Ein warmer Schal
Ist besser als ein kalter.
Ich bin zu hässlich für mein Alter.
Du bist zu schön.
Und das vergeht.
Das ist nicht neu.
Nichts bleibt, nichts steht.
Ein Lada steht im Parkverbot.
In hundert Jahren sind wir tot.
Am Montag, den 26. August 2013, ist Wolfgang Herrndorf gestorben (www.wolfgang-herrndorf.de).

1. April 2013

Dreißig Winter

Dass wir, die wir ganz und gar begrenzt sind, etwas geschafft haben, das uns übersteigt. Das uns, wie M. sagt, wenn alles gut geht, überdauert, das haut mich immer wieder um. Dreißig Winter habe ich hinter mich bringen müssen, um etwas derartiges zu fühlen. Möge immer alles gut gehen dies ist ab jetzt meine größte Hoffnung.

21. Februar 2013

Frau Strick

Ende März 2009. Dies mein Schicksaljahr. Wie sich die Dinge schon ein halbes Jahr später wenden. Die Katastrophe, in die wir stürzen werden. Nichts davon ist an diesem Punkt meines Lebens absehbar. Alles unbeschwert und heil; so raunt die Sprache der Fotos, die mir seit langer Zeit heute wieder in die Hände gefallen sind. Das, die heutige, vielleicht etwas verklärte Sicht auf die Dinge.
26.3.2009: Wir, das sind der Meister - den ich 2008 eines späten Winternachmittages im morbiden Hauptgebäude der Technischen Universität auf einer Steintreppe, auf der wir unerlaubterweise nach den Seminaren regelmäßig rauchten, auflas, so begann unsere Freundschaft -  M. und ich, stehen im Colosseum, den Audioguide am Ohr. Die Sonne scheint schon kräftig hier. Der Frühling ist längst angekommen in der ewigen Stadt. Als der Flieger in Berlin abhob, versank dort alles noch im Einheitsgrau eines langen Winters. 
Im Seitenprofil entdecke ich sie dann ganz deutlich, meine heißgeliebte Sonnenbrille, die der Meister im Nachgang, da hatte der M. sich am Petersplatz in einem Moment der Unaufmerksamkeit, zudem leicht vom Weine benebelt, schon darauf gesetzt und daraufhin war ein Glas aus dem Gestell herausgebrochen, nicht ohne ein bißchen Ironie, wie es so seine Art ist, Frau Strick getauft hatte. Nach jener durchgeknallten älteren Dame aus seinen Zivildiensttagen in der Psychatrie, die nicht nur pausenlos herumphantasierte und ihre verworrenen Narrationen zum Besten gab, sondern augenscheinlich ähnliche Modelle präferierte. Ihre im Gegensatz zu meiner damaligen Flohmarktentdeckung wahrscheinlich eher hornbrillenartig und hochwertig. Die nächtlichen Fotos zeigen uns kurz nach dem Vorfall lächelnd und weintrinkend vor der Petersbasilika. Ich, die lädierte Frau Strick auf der Nase, einglasig, dennoch in die Kamera feixend. Seit diesem Tag nun, dem Tag der zerstörten Brille, bin ich unentwegt auf der Suche nach einer neuen Frau Strick, die der alten annähernd das Wasser reichen könnte und scheitere mit diesem Anliegen Sommer um Sommer. Immer wieder sehe ich mich nach ihr um, besser: nach einer, die ihr auch nur ein bißchen ähnelte, und immer wieder kaufe ich Brillen. Ob auf dem Flohmarkt, bei Mango oder online, ich werde immer wieder enttäuscht. Nie, nie, nie war auch nur eine dabei, die nur halb so hinreißend ist wie sie es war. Ob ich sie wohl jemals finden werde, jene Schöne, die ich so lange schon begehre?

9. April 2012

Was bleibt

ist ein Hauch von innerlicher Erschütterung. Wenn ich an die Worte meiner letzten Mail an Dich denke, die ich nie wieder fand, auch als das erste, das schlimmste, Jahr vorüber und der Boden wieder spürbar  unter meinen Füßen war. Du seist nicht der Mittelpunkt meiner Welt und dass ich nicht immer um Dich kreisen kann oder so ähnlich hatte ich geschrieben. Eine Ahnung Deines Allein(gelassen)seins als Du den entscheidenden Schritt wagtest, der Dich auslöschte. Und meine Worte der Hauch der Dich, verlassen und balancierend auf dem Tightrope, vielleicht ins Wanken brachte, schließlich umwarf und stürzen ließ. Zwei Wochen zuvor, es war bereits zu kalt, um draußen zu sitzen, hatte ich Dich an einer Kreuzberger Bar an einen alten Songtext eines Liedes einer Band erinnert, die damals wie keine andere im Stande war, unserem jugendlichen Weltschmerz Ausdruck zu verleihen: My words are weapons, in which I murder you with/Please don't be scared, please do not turn your head. Damals, bei Erscheinen von Infest, bist Du 17 und ich 16 gewesen.
April 2012: Ich jetzt hier und Du irgendwo in der Ferne, während die Sonnen glühend über den einsamen Feldern untergeht. Es ist der inständige Wunsch, ich hätte, wenn ich doch die Zeit nicht mehr zurückdrehen kann, diese Worte nie zu Dir gesagt oder hätte sie revidieren können, das einzige, was mir bleibt.

26. März 2012

Eine Sprache finden

für all das, was die Grenze des Fassbaren überschritten hat, für dasjenige, was sich nicht sagen lässt. Eine Sprache, die die Worte von all der verlorenen Zeit sprechen lässt, die hinter uns liegt, die auf ewig vorüber ist. Eine Sprache meine ich, die das Innere transzendiert, sodass es vielleicht auch für Dich hörbar ist an Deinen verborgenen Orten, um dann etwas auszudrücken, das ich Dir schon lange nicht mehr von Gesicht zu Gesicht gesagt habe - seit dem Moment, an dem Dich Wille und Mut verlassen hat. Eine Sprache, von der ich spreche, die ich nicht greifen kann, ist es, um die ich ringe, die ich begehre. Sie, so meine Hoffnung, weil sie all dem Vergänglichen um uns herum etwas entgegenzusetzen hätte, das bleibend wäre, auch wenn wir am Ende des Tages wieder etwas mehr gestorben sind. Mehr habe ich nicht als die paar Worte, die ich zusammenklaube und die doch immer vorbeigehen müssen an der Art wie Du gelacht hast, wir wir tanzten in Berliner Sommernächten oder auf Decken lagen, unten wir und oben die Sterne. Damit erinnern wie wir die Lieder sangen, die vom Leben lieben handeln, Tequila tranken, machten Jägermeister platt, in den Mond schrien: "Verdammt, wir sind die geilste Gang der Stadt!". Einen kurzen Moment bin ich von den Songs dieser Platte derart getroffen (Ich weiß noch wie du sagtest:"Nie werd ich 27"), haben mich die Worte eines Anderen sprachlos gemacht (Mitten im offenarmigen Tanz auf brennenden Brücken/Wir waren: Auf ins Leben /doch ein Haufen Elend/Vielleicht liegt der Sieg darin einfach aufzugeben/Lass Tanzen und fliehn/Synchronisieren, funken Momente zum Takt der Musik/Stampfen im Beat, klatschen zum Lied/drängen und zieh'n/Klammern uns an süße Melancholie). Derart desorientiert, dass ich ruckartig vom Schreibtisch aufstehen muss und mich drei Minuten später, von der Sonne blind, vor meiner Haustür wiederfinde. Schwindelig: Bin immer noch da, wenigstens alles taub gemacht. 
  

23. Januar 2012

Only substitutions

Mit dem Vorsatz nur flüchtig in Theresas Blog herüberzulinsen gerate ich angesichts der schönen Arragements von (bilingualem) Text, Bild und Illustration mal wieder in blogosphärentypisches Verweilen. Dabei von nebenan betrachten zu können, welche Pläne die jeweils andere inspirativ leiten. 
Von der vereinnahmenden Ästhetik des Schlussmachens schlagartig getroffen als ich bei den Bildern und erläuternden Texten des Eintrages Bookbinding: my dissertation angekommen bin, fühlt es sich kurz wie ein Stich ins Herz an, bevor ich wieder normal atmen kann - wenn das mit der momentanen Schnupfnase überhaupt möglich ist. Nicht nur befreiend also, sondern auch noch originell und so stilvoll kann das sein, Dinge endlich abzuschließen. Ich hingegen zerpflücke in Gewaltexzessen gerade wieder mein nun neun Ausgaben umfassendes Machwerk, finde allerorts aneinandergereihte Spitzfindigkeiten poststruktuaralistischer Provenienz, Schachtelsätze, die alle Sonderzeichen in sich aufnehmen wollen und derer nicht satt werden, umschweifige, dafür nichtssagende Satzgirladen, Worthülsen, wo man auch hinsieht. Eine einzige Hyperästhetisierung, eine theoretische Spielerei allenfalls, aber weit und breit keine universelle Sinnhaftigkeit, an die ich mich in der Nachfolge von Foucault, Deleuze und Kittler dennoch klammere wie ein flennendes Kind. Und, quelle surprise: eine bedenkenswerte Konsumbilanz im Januar mit etwas mehr als 350€ für Kleidung (bei der Vorgeschichte für mich freilich alarmierende Zahlen), die mein Taschenrechner da ausspuckt. Wie man doch beständig hinter sich zurückfällt. Noch immer also nicht für ungültig erklärt: das Verhältnis, bei dem Unzufriedenheit, Trauer, Wut und Angst streng und unmittelbar mit Konsum korreliert.

5. Januar 2012

Halt auf freier Strecke

Ein konfrontativer, liebevoller, großartiger Film. Und erneut die aufflammende Hoffnung, Wolfgang Herrndorf könnte jener Zwangläufigkeit der Krankheit andauernd von der Schippe springen und einen weiteren Jugendroman schreiben.

16. November 2011

Von sterbenden Worten

Wenn ich versuche, Dich aus meinen Erinnerungen heraus heute zu beschreiben und vor mir auszubreiten, was Du für mich gewesen bist, verschlägt mir Dein junges Sterben, bei dem ich Dir nicht die Hand hielt, auch heute noch die Sprache.

3. November 2011

Fini


Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. Dämmerung -Wolfgang Herrndorf

'Und, bist Du traurig?', fragt mich eine Kollegin kurz nachdem ich meine Tasche gepackt habe, bereit von hier aufzubrechen, und ich antworte ungewohnt kurzatmig: 'Ja, schon ein bißchen'. Sechseinhalb Jahre lang bin ich diesen Weg früh morgens gegangen, in den letzten zwei Jahren dann immer öfter auch mit dem Fahrrad gekommen. Zuerst immer um Punkt halb sieben aufgestanden, dann um Viertel vor, in den letzten Wochen erst um sieben. Je besser jeder Handgriff, je routinemäßiger der Ablauf, desto verträumter waren die Morgengedanken auf dem Weg dorthin. Äußerlich all das ohne größere Abweichungen in ewiger Wiederkehr, die innere Bewegtheit dabei beinahe unsichtbar. Jede kleinste Variation des immer gleichen Themas, befürchte ich, hätte mich mit meinen fragilen Gefühlsgebilden, im Laufe des Tages wie von unsichtbarer Hand in Luft auflöst, blitzschnell aus der Bahn werfen können. Ob verzweifelt, restbetrunken von Nacht und Rausch, in Studienliteratur vertieft:  immer waren es dieselben Treppen, dieselben Wege und Bäume, unter denen ich entlang lief. Nur die Zigarette fehlte am Ende. Viel ist passiert in diesen sechseinhalb Jahren. Beinahe das ganze Erwachsenwerden findet darin Platz. Die Dummheiten, die Enttäsuchungen, die Entscheidungen, die Verzweiflung über den Tod eines geliebten Menschen, zuletzt der Entschluss, das Studium nach vielen Tellerrandüberquerungen und inspirativen Eskapaden nun schnell und entschlossen doch noch zu beenden. All die Probleme mit den Schulden, die Parties, die an den Texten wundgestoßenen Nächte und all der noch fast jugendliche Weltschmerzkram. Etwas verwirrt bin ich heute als ich diesen Weg zum letzten Mal von dieser, meiner Arbeit der letzten sechseinhalb nach Hause gehe. Derart verwirrt gar, dass ich unkontrolliert in den Bus steige und nach einer Station Fahrt verwundert und fast reglos wieder hinausfalle. Alles derart vertraut, dass ich benommen bin von der Erkenntnis, dass auch dieser Abschnitt, die Arbeit hier, genauso zuende gegangen ist wie die letzten Jahre. Wie sich alles verändert, denke ich, gerade eben - auch das wird heute etwas schmerzlich klar - bin ich doch erst einundzwanzig gewesen. Dieser Abend riecht nach spätherbstlicher Abendluft und gefallenen Blättern, schmeckt ganz nach einer Flasche gekühltem Pils und fühlt sich an wie Bon Iver in Endlosschleifen. Und bald schon werde ich mir meine Magisterurkunde abholen können und wieder einen Schritt weg von der Einundzwanzig getan haben. Einundzwanzig. Das fühlt sich heute wie gestern und gleichzeitig wie in einem anderen Leben an. 'Bist Du traurig?' Ja, schon ein bißchen. Heute auch ein bißchen mehr, insbesondere wegen der schönen, besonderen, berührenden Zeit, die (wieder mal) unwiderruflich vergangen ist.