18. März 2011

Vom Gesetz des Vitalen

Als gäbe es in meinem Kopf einen Kausalzusammenhang zwischen der Form sich zu gebärden und dem Grad der Vitaliät einer Person. Schon als Kind konnte ich diese ganz Stillen, Schüchternen und Ängstlichen nie ganz ernst nehmen. Ihre Art, sich vor Autoritäten zu verstecken, sich im schlimmsten Fall devot vor ihnen zu beugen. Das betraf vor allem ihre weitentwickelten Strategien, sich bei Referaten aus der Affäre zu ziehen, bei Parties glotzend und begutachtend, aber nahezu immer schweigend in der Ecke zu sitzen. Später, ihr ungeheurer Mut vom Prof. vor 60 Kommilitonen wiederholt dazu aufgefordert zu werden, endlich lauter zu sprechen, ist mir bis heute ein dunkles Rätsel geblieben. Manchmal paart sich diese ihre Rehkitzhaftigkeit mit gesundheitlicher Schwäche, minderer Entscheidungsfähigkeit und Hypersensibilität. Manchmal kommen diese Mädchenhaften mir vor wie kleine Veilchen am Wegesrand, die wie Silesius sagt blühen, weil sie blühen. Auch die Langsamen, die oft ebenso von zurückhaltender Natur sind, bieten mir offene Fragen. Ihre Bequemlichkeit, die sie ständig dazu veranlasst fernzusehen, lieber auf Taxi/Auto/Bahn zu setzen, statt zu laufen oder Fahrrad zu fahren, ihr Hang zum Fressen und Saufen, ihre intellektuelle Derbheit, ihr Bedürfnis, dass man nicht so schnell läuft, weniger schnell spricht und vor allem leiser. Wie sie im Schwimmbad darauf bedacht sind, mich wenigstens einmal einzuholen, nach vollbrachter Anstrengung aber erstmal am Beckenrand ausruhen, während ich ohne Pause weiterschwimme. Die Langsamen sind oft weder körperlich noch intellektuell wendig, sie schwimmen in den Fahrrinnen des Populären dahin. Gedanklich etwas wagen, das ist ihnen nichts, das spielt in ihrem Leben keine Rolle. Manchmal, wenn einer von ihnen, seine gedanklichen Gänge vor mir entwicklelt, dann ertappe ich mich dabei, wie ich beständig mit den Händen kurbele, in der Hoffnung er würde schneller sprechen oder endlich zum Punkt kommen. Mit einem Gefühl überkommender Ungeduld falle ich ihnen schließlich ins Wort, beende den Gedanken und übernehme die Sprecherrolle. Alles dies also: Diese aus meiner Perspektive in ihrer Vitalität irgendwie Gehemmten und Degenerierten bleiben mir zeitlebens unverständlich. Jene Vorstellung, wenngleich gedanklich verworrenen, demgemäß Aktivität als der Ausdruck und Gradmesser eines Lebens verstanden wird, verleitet mich beständig dazu, mir die immer gleiche Frage zu stellen: Wie (viel) Leben, wenn diese sich lieber verstecken oder ausruhen möchten?