25. April 2011

Halley

Als Kind habe ich mich sehr für Astronomie interessiert. Meinem drängenden Wissensdurst verschafften die unzähligen Sachbücher und Bildbände, Mondkarten und Kalendarien Linderung, die meine Eltern für mich besorgten. Als der Halleysche Komet das letzte Mal am mitteleuropäischen Firmament bestaunt werden konnte, wurde ich noch im selben Jahr drei Jahre alt. Klar, dass ich davon nichts bewusst mitbekam. An den schnell vergangenen frühlingshaften Feiertagen rief mein Vater mir die Leidenschaft nicht nur ins Gedächtnis zurück, sondern konstatierte nüchtern nahezu beiläufig gar, durch meinen in die Sterne guckenden Opa dazu angeregt, dass der Schwiegervater und er selbst den nächsten Besuch des Lichtstarken sicher nicht mehr erleben würden, bis dato sowieso längst verstorben seien, ich hingegen bei guter Lebensführung noch eine gute, wenngleich unsichere Chance hätte, das Spektakel mitzuerleben. 2061- unvorstellbar schon beim Schreiben. Und bis dahin, wenn es gelänge, alle aus denen ich hervorgegangen bin, die mich aufwachsen sahen und mich dabei viele Jahre unterstützt haben, bereits lange verloren zu haben und dennoch vielleicht, hoffentlich, selbst auf jene Kommenden zu blicken, die einen dann selbst bald verlieren werden, in denen das Gewesene lebendige Spuren zeitigt. Jene Kaskade der Gefühle,  jene traurigen Gedanken an das bevorstehende Sterben geliebter Menschen einerseits und an den unwiederruflichen, dadurch unberührten Kreislauf der Natur, von der wir ein Teil sind, andererseits, jene zarte Melancholie, von einer starken, schönen Aprilsonne beschienen, die mein Vater nicht voraussehen konnte, als er das Gespräch zu astronomischen Betrachtungen lenkte, nehme ich vom Land mit nach Hause in die Stadt. Nachdenklich stimmt sie mich, diese meine persönliche Ostergeschichte: Das stete Ineinandergreifen von Leben und Tod, die Gewissheit des Streben als Basis der Lebens, die Existenz und das Dasein jener Menschen genau beobachten, die einen umgeben, und bis in den kleinsten Lebensausdruck hinein studieren, damit eine Erinnerung bleibt, die man dem Tod trotzig entgegensetzen kann: Schau her, alles nimmst Du und doch bleibt immer etwas zurück, das Du nicht an Dich reißen kannst! All dessen eingedenk sein und sich ungeachtet der unvostellbaren Verluste, die mir bevorstehen, oder gerade deswegen freuen über viele noch ungelebte, jedoch bevorstehende Momente. Ab jetzt jeden Tag, jede Stunde nutzen wollen, denkt man sich von der Tatkraft der Frühlings angestachelt: Ja, ich möchte öfter anrufen, Karten schreiben und euch besuchen. Und sollte ich 2061 noch am Leben sein, werde ich vielleicht mit Kindern und Enkeln, in den Ort meiner frühen Kindheit, bevor meine Eltern nach Berlin zogen, zurückkehren, mit Teleskop und Karte. Den Blick an den dann kurzzeitig um eine Erscheinung reicheren Himmel geheftet, werde ich erzählen von Ostern 2011; wie wir alle in die Sterne guckten und schwiegen, nachdem mein Vater das mit dem Halleyschen Kometen erzählt hatte und wir die stillen Minuten in verschiedenen Körpern zwar, von denen nur noch meiner bis dann vielleicht am Leben sein wird, jedoch von ähnlicher Melancholie getragen, so bewusst erlebten. 2061: Antizipativ annehmen, was bis dahin geschehen ist, sich aber nichts davon jetzt, 2011, vorstellen zu können, das ist der Trost, den das Leben bereithält. Alles andere wäre ehrlich gesagt auch unerträglich nüchtern und unromantisch. 2061, das sind nicht nur ich und die Himmelserscheinung, das wäre auch lebendige Erinnerung. Vielleicht und hoffentlich sogar gelebte Erinnerung.