17. November 2011

when you were young

Da beginnt man, vom Fleiße und Disziplin förmlich angestachelt, frühmorgentlich, also noch vor halb neun, den unter Gedankenfragmenten, Exzerpten, aus den einschlägigen Periodika kopierten Forschungsaufsätzen, Büchern und freien Schnipselradikalen vergrabenen Schreibtisch, im Schliemann-Prinzip Schicht für Schicht abtragend, freizulegen, stößt dabei, das Vorhaben auch auf das auf jenen Schreibtisch montierte Regal ausdehnend, auf Schätze einer weit entfernten Vergangenheit und muss erstmal die Killers (Hot Fuss erschien kurz nach meinem 21. Geburtstag, ist sowas wie die Begleitmusik meines Erwachsenwerdens) anmachen, um placeboartig beruhigt weiter zu graben. 
Dabei tauchen Dinge auf, gelangen derart aberplötzlich ins Blickfeld, dass sie mich kurzzeitig sprachlos machen, weil ich mich ihres Daseins trotz meines Vergangenheitsfetischs nicht mehr erinnerte:

Ein Kontoauszug der Citibank vom 8.8.2003, der auf den Klarnamen der Miss eine gut verzinste Festgeldanlage von 4.164,48€ ausweist (für eine 20jährige, die neben der Schule, seit sie 15 war, gearbeitet hat, ein stolzes, gespartes Sümmchen). Was soll ich sagen, das Geld wurde am 06.11. desselben Jahres frei. Es passierte, was passieren musste (mit damals noch nicht diagnostizierter Zwangsstörung). Aber das das so viel war, das schmerzt im Nachhinein doch gewaltig.

und andere, die mir sehr gut in Erinnerung sind, Allbekanntes sozusagen:

Dutzende Kontoauszüge, die die Radikalisierung des Konsums anzeigen. Zwar noch ohne Inkasso, gerichtlichen Mahn- und Vollstreckungstitel und Gerichtsvollzieher (das kam alles später), jedoch erste Mahnungen dazwischen, stufenweise Erhöhungen des Kreditrahmens für das Girokonto, übertriebene und unangemessene Kreditkartenabrechnungen. Die Kontoauszüge eines Monats im Umfang steigend, dann irgendwann derart dick werdend, dass der Überblick gänzlich verloren geht. Am Ende gibt es jeden Tag Abbuchungen von den einschlägigen Einzelhändlern. Immer hemmungsloser die Höhe und Häufigkeit der Abgänge, manchmal von zwanzig Geschäften an einem Tag. Dass ich 1000€, die mir meine Eltern damals zum Abitur schenken innerhalb weniger Tage plattmachte statt etwas Sinnvolles (Reisen) damit zu finanzieren, schrecklich dumm, im Nachhinein. 
Überhaupt die Sinnlosigkeit des Konsums, der Anhäufung von (für sich bedeutungslosen) Objekten bei gleichzeitiger Sinnhaftigkeit und symbolischem Gehalt der Geste. Dieser verfickte Verweisungscharakter: bis ich die Allgegenwart der Referenz geschnallt hatte, gingen schon einige therapeutische Jährchen ins Land.
Die 4.164,48€ und 1000€ werde ich meiner imaginären Bilanz dennoch zuschlagen müssen, um den späteren Enkeln die Dimension von Entgleisungen zu verdeutlichen.

Daneben natürlich Unmengen studienrelevanten Materials und Studienbescheinigungen, jedes Semester ein anderes, neues Fach darauf. Und zur Belustigung der lesenden Aufräumerin, aus einem sozialistischen Notizbuch mit Sitzungsprotokollen (von ihrem Onkel geerbt): Neben spezifisch landwirtschaftlichen Maßnahmen im Rahmen der LPG findet sich an der ein oder anderen Stelle Linkshegelianisches (aus dem Jahr 1971), was die Miss, die ja eigentlich Philosophin ist, enthusiasmiert und äußerst delektiert zur Kenntnis nimmt:

Beim Durchblättern alter Gedichte, ja ich habe mich tatsächlich einmal an der Lyrik versucht, in allem dieser (sich manchmal verselbständigende, manchmal übertriebene) sentimentalische Zug, dessen Quelle mir gänzlich schleierhaft ist in einer Familie der Pragmatiker, Eingerichteten und Ausgeglichenen.

And sometimes you close your eyes
and see the place where you used to live
When you were young