3. November 2011

Fini


Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. Dämmerung -Wolfgang Herrndorf

'Und, bist Du traurig?', fragt mich eine Kollegin kurz nachdem ich meine Tasche gepackt habe, bereit von hier aufzubrechen, und ich antworte ungewohnt kurzatmig: 'Ja, schon ein bißchen'. Sechseinhalb Jahre lang bin ich diesen Weg früh morgens gegangen, in den letzten zwei Jahren dann immer öfter auch mit dem Fahrrad gekommen. Zuerst immer um Punkt halb sieben aufgestanden, dann um Viertel vor, in den letzten Wochen erst um sieben. Je besser jeder Handgriff, je routinemäßiger der Ablauf, desto verträumter waren die Morgengedanken auf dem Weg dorthin. Äußerlich all das ohne größere Abweichungen in ewiger Wiederkehr, die innere Bewegtheit dabei beinahe unsichtbar. Jede kleinste Variation des immer gleichen Themas, befürchte ich, hätte mich mit meinen fragilen Gefühlsgebilden, im Laufe des Tages wie von unsichtbarer Hand in Luft auflöst, blitzschnell aus der Bahn werfen können. Ob verzweifelt, restbetrunken von Nacht und Rausch, in Studienliteratur vertieft:  immer waren es dieselben Treppen, dieselben Wege und Bäume, unter denen ich entlang lief. Nur die Zigarette fehlte am Ende. Viel ist passiert in diesen sechseinhalb Jahren. Beinahe das ganze Erwachsenwerden findet darin Platz. Die Dummheiten, die Enttäsuchungen, die Entscheidungen, die Verzweiflung über den Tod eines geliebten Menschen, zuletzt der Entschluss, das Studium nach vielen Tellerrandüberquerungen und inspirativen Eskapaden nun schnell und entschlossen doch noch zu beenden. All die Probleme mit den Schulden, die Parties, die an den Texten wundgestoßenen Nächte und all der noch fast jugendliche Weltschmerzkram. Etwas verwirrt bin ich heute als ich diesen Weg zum letzten Mal von dieser, meiner Arbeit der letzten sechseinhalb nach Hause gehe. Derart verwirrt gar, dass ich unkontrolliert in den Bus steige und nach einer Station Fahrt verwundert und fast reglos wieder hinausfalle. Alles derart vertraut, dass ich benommen bin von der Erkenntnis, dass auch dieser Abschnitt, die Arbeit hier, genauso zuende gegangen ist wie die letzten Jahre. Wie sich alles verändert, denke ich, gerade eben - auch das wird heute etwas schmerzlich klar - bin ich doch erst einundzwanzig gewesen. Dieser Abend riecht nach spätherbstlicher Abendluft und gefallenen Blättern, schmeckt ganz nach einer Flasche gekühltem Pils und fühlt sich an wie Bon Iver in Endlosschleifen. Und bald schon werde ich mir meine Magisterurkunde abholen können und wieder einen Schritt weg von der Einundzwanzig getan haben. Einundzwanzig. Das fühlt sich heute wie gestern und gleichzeitig wie in einem anderen Leben an. 'Bist Du traurig?' Ja, schon ein bißchen. Heute auch ein bißchen mehr, insbesondere wegen der schönen, besonderen, berührenden Zeit, die (wieder mal) unwiderruflich vergangen ist.