11. September 2011

Noch einmal leben...


In einem Land vor unserer Zeit trägt mein Opa meine kleine Mama durch die Gartenanlage spazieren. An einem sonnigen Tag in sehr ferner Vergangenheit schreitet er durch Schattenspiel und Herbstlicht über den Boden eines Land, das längst nicht mehr existiert.
Den Kopf voller Gedanken springe ich am Bahnhof Friedrichstraße aus dem Regionalzug in die Straßenbahn nach Hause. Ich kenne jeden Abschnitt, jede Kurve entlang der Strecke. Selbst mit geschlossenen Augen wüsste ich jederzeit, wo ich mich gerade befinde. Eingelullt von einem monotonen Geschaukel, während die warm beleuchtete, regennasse Großstadt gemächlich vorbeizieht, legt sich eine sanfte Schwere über die müden Lider. Und während ich das Wochenende innerlich Revue passieren lasse, fallen mir dutzende gewechselter Sätze wieder ein. Wie ich meine Mutter in etwas rührigem Tonfall in der Nacht auf dem Rückweg in den Garten der Großeltern unter einem fahlen Septembermond gefragt habe, wie und ob sie sich noch gut an ihre Kindheit erinnern könnte, sie mir daraufhin Bericht erstattete und sich in meiner Gegenwart selbst an vergangene Zeiten erinnerte. Auf ihre Gegenfrage hingegen antwortete ich, aus Angst meine Stimme könne den Grad meiner Bewegtheit preisgeben, eher kurzatmig. An vieles erinnere ich mich jedoch sehr genau, insbesondere wie beschützt und abgeschottet meine Kindheit verlief und nicht wie die ZEIT in einem ihrer Leitartikel diese Woche konstatiert, mit spätestens zehn Jahren endete. Gehörte ich doch zu denjenigen, die auch im höheren Alter noch mit einem Teddy erwischt worden wäre und wirklich sehr lange noch kindlich spielte. An die absolute Versunkensein in diese reiche Welt der Phantasie, die damals absolut nichts trüben konnte, an die radikale Selbstverlorenheit erinnere ich mich mit einer nahezu mikroskopischen Präzision. 
Nachts dann schlief ich in der Wohnung der Großeltern zum ersten Mal seit anderthalb Jahrzehnten wieder mit meiner Mom in einem Bett. In der Morgendämmerung erwacht und im anschließenden Halbschlaf etwas gefürchtet davor, dass dieser Mensch, da neben mir liegend, atmend, einmal sterben wird, noch lange hin aber unausweichlich. Und auf dem letzten Stück Heimweg, beim Durchqueren des Weinbergparks im strömenden Regen, die flüsternden Worte meines Opas beim Betrachten alter Fotos, dem Archiv familiärer Erinnerungen, im Ohr: "Noch einmal leben".
Eine Melancholie, die mich auf einmal intensiv erfasst, mich an unzählige Heidegger-Lektüren denken lässt, wie mich, zwanzigjährig, der zweite Teil von Sein und Zeit - das Sein zum Tode, die Zeitlichkeit des Daseins und seine Entschlossenheit - nicht nur intellektuell zum Erbeben brachte. 
Und, die Allgegenwärtigkeit des Todes im Leben, das Eingedenksein des Endes im Anfang, immer wieder an Hesse: Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!