23. August 2014

Auf der Kippe

Dieser Tage, während ein kurzer, zuletzt immer kühlerer Sommer sogleich fast unmerklich in den Herbst hinübergleitet und mir morgens, wenn ich kurz nach sieben das Haus verlasse, auf dem Weg zur Kita, auf dem Rad von Mitte nach Schöneberg oder nach Dahlem ein frischer Gegenwind als Vorbote kürzerer Tage entgegenweht, schlägt die Melancholie, meine janusköpfige Begleiterin, mit voller Breitseite zu. Vieles, denke ich so bei mir, schon längst vorüber, die rauschendsten Feste gefeiert, allzu wenig noch übrig von den einmaligen Erlebnissen, die eine (späte) Jugend so bietet. Inzwischen nämlich nahezu alle Jungfernfahrten erlebt und abgehakt: leidenschaftliche Lieben, (nächtliche) Exzesse, Tiefpunkte, Krisen, Bildungsabschlüsse, Berufstätigkeit, Familiengründung: alles bereits zum ersten Mal (meist zur Genüge) getan und gehörig Pulver dabei verschossen. Permanente Abwechslung, Haltlosigkeit, ebenso das Gefühl, stets auf dem Sprung zu sein, nun täglichen Routinen gewichen, die alles auch dann noch funktionsfähig zusammenhalten, wenn es innen drin heftig zu wanken beginnt und der alte Schlund sich öffnet.
Auch die tägliche Gewissheit eines allmählichen Verfalls des Äußeren beim spitzfindigen Blick in den Spiegel momentan eher schwer zu ertragen. Besonders beim Gedanken, den Zenit der eigenen Attraktivität – wie überhaupt: den Höhepunkt des Erlebbaren – schon überschritten zu haben und mich gefragt, was neben der passionierten Ausübung eines Berufs jenseits des 30. Lebensjahres an deren Stelle treten könnte. Der Genuss am mit den Jahren sicher größer werdenden finanziellen Spielraum in Hinblick auf den Verlust der Spontaneität und Intensität der früheren Jahre hingegen schon immer ein eher schwacher Trost. Dabei eine immer tiefer wuchernde Zornesfalte zwischen den Augenbrauen neu entdeckt und seitdem immer wieder verflucht und inbrünstig hassen gelernt, dieses Kainsmahl mimischer Ausschweifung.
Demgegenüber wird das aufkeimende Hadern mit dem Lauf der Dinge einzig durch die hinzugewonnene Solidität des eigenen Standpunkts mit ihrer Unangewiesenheit auf allerhand Vorgelebtes, an dem man sich zu orientieren hätte, durch eine wachsende Souveränität durchkreuzt, an die noch in den kürzlich verabschiedeten Zwanzigern nicht zu denken war. Im gleichen Atemzug die Fähigkeit angeeignet, die gefühlt immer schneller davonlaufende Lebenszeit – das möbiusbandartige intellektuelle Kaprizieren auf diese unabwendbaren Tatsachen davon einmal ausgenommen – schätzen zu lernen, und Nebensächlichkeiten und Animositäten angesichts der Kostbarkeit der Tage darin insgesamt weniger Stellenwert einzuräumen. Stets mutig sein und würdig altern, müsste man, plätschern die Gedanken so vor sich hin, während ich, das Gesicht dem Fahrtwind ausgesetzt, den Kragen noch etwas höher schlage, denn heute morgen liegt bereits ein erster Hauch von herannahendem Winter in der Luft.