9. August 2014

Transzendenz

"Und wo bleibt da in deinem Leben die Transzendenz?", hatte der Ch. mich neulich nach dem Abendessen bei ihm zu Hause scharf zurechtgewiesen, nachdem ich sein nächtliches Bekenntnis zum Göttlichen, während der S. ihm argumentativ nicht von der Seite wich, mit dem ein oder anderen flapsigen Kommentar gewürdigt hatte. Der Ch. versteht sich nämlich ausdrücklich nicht als ein Anhänger einer Konfession, hält ein Leben ohne ein übergeordnetes Prinzip aber schlichtweg für allzu trostlos.
Wie also leben ohne diese Vorstellung? Als Relativistin, Skeptikerin? Schon manches Mal nächtens wachgelegen und oft diese Angst verspürt, die an der Wurzel der Existenz rührt. Schmerzlich immer wieder konfrontiert mit dem Blick auf das unausweichliche Ende: "le repos entier est la mort". Empfänglich für letzte Fragen war ich immer, eines rettenden Gottesbeweises entbehre ich allerdings bis heute, wahrscheinlich für immer. Der Mensch – ach, Pascal! – nur ein fragiles Schilfrohr, das denkt: "L'homme n'est qu'un roseau, le plus faible de la nature; mais c'est un roseau pensant. Il ne faut pas que l'univers entier s'arme pour l'écraser: une vapeur, une goutte d'eau, suffit pour le tuer."
So bleibt einzig abgezählte Lebenszeit und ein Drittel, vielleicht auch die Hälfte davon schon rum. Meine Mutter spricht seit ein paar Jahren (ihrem fünfzigsten Geburtstag etwa) von ihrem Lebenskalender, der Tag auf Tag weniger Blätter bereithält bis schließlich irgendwann das letzte Blatt abgerissen wird und auch mein Vater, in Bezug auf den eigenen Tod immer mit einer erstaunlichen Abgeklärtheit gesegnet, gibt zu: "Wenn es soweit ist, werde ich heulen wie ein Schlosshund."
Werde ich weinen, schreien, ruhig sein?
Vorerst nichts als leere Taschen, was die Überfahrt ins gottlose Jenseits, ins Dunkel, ins Nichts betrifft, und die Gewissheit, dass alles abgefackelt werden muss im Hier und Jetzt, bevor das Licht ausgeht. Intensität, mein Elysium! Vielleicht daher der Hang zu pathetischem Wort, zu langen Nächten, Verzweiflung, Verausgabung, Exzess. Das leise Atmen der kleinen L., der ich in der Kühle der Nacht schnell noch die Decke um die Beine schlage bis ich selbst in die Kissen falle. Die, in ruhige Träume gefallen, noch nichts ahnt von Ausgeliefertsein und Sterben.