Nach langer Abstinenz: Neuerliche Lektüre von Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen III (Schopenhauer als Erzieher). Die erste Leseerfahrung inzwischen in unendliche Ferne gerückt, immerhin fast 10 Jahre her, kaum noch erinnerlich daher in ihren Einzelheiten. Trotz vermeintlicher Abgeklärtheit noch immer begeistert von der ihnen zugrundeliegenden Konzeption (dem metaphysischen Überbau), der in Szene gesetzten Dialektik von Heiterkeit und Schwermut. Im Subtext läuft freilich meine ganz eigene, triviale Lesart: die vermessene Applikation der philosophischen Begriffe auf das eigene Leben: Aliis laetus, sibi sapiens.
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27. August 2014
26. August 2014
Nach Art der Bärin
Cum Georgica scriberet, traditur cotidie meditatos mane plurimos versus dictare solitus ac per totum diem retractando ad paucissimos redigere, non absurde carmen se ursae more parere dicens et lambendo demum effingere.
Vitae Vergilianae, 22
Meine vergilianische Arbeitsweise: Von einem blinden Aktionismus geleitet, produziere ich in immensen Kraftanstrengungen beständig irgendwelchen Output, den ich Tags darauf verwerfe, selten auf wenige Wörter und Gedankensplitter zusammenstreiche. Auf diese Weise landete damals eine 180-seitige Magisterarbeit (inkl. diverser Anhänge) – ein drei Jahre währendes Mammutwerk – auf dem Scheiterhaufen der Geschichte und binnen postnataler Mutterschutzzeit musste geschwind eine neue her, was nur in einem Zustand des schreibenden Wahns gelang; letztlich aber zu einem unverhofft glücklichen Ende führte. Lange dreh(t)e ich mich dabei im Kreis um die immer gleichen Argumente, wälz(t)e Buch um Buch, Gedanke um Gedanke, bis ich, des belastenden Gros materialisierten Nachdenkens in einer kamikazeartigen Übersprungshandlung mich entledigend, mit einem äußerst eingedampften Kleinklein zu leben lerne.
17. Oktober 2013
Anstelle eines Nachrufes
Eine enthusiastische Meldung für die Übernahme des "Tschick"-Referats im Januar in der ersten Sitzung des Didaktik-Seminars. Vielleicht meine Art einer posthumen Ehrerbietung. Auf diese Weise einer subversiven Kraft der Sprache zu huldigen.
5. Dezember 2012
"Es ist das Nutzloseste auf der Welt"
Sternstunden im deutschen TV. Kurz nach
Mitternacht. Reinhold Messner beim bundesrepublikanischen Traumschwiegersohn zu
Gast. Ich überlege kurz wegzuschalten. Von minutiöser philologischer Arbeit
gänzlich ermattet, beugen sich prompt alle inneren Widerstände dem Versprechen
vermeintlich seichtester Unterhaltung. Jene, die mich lange kennen, wissen
zudem von meiner Schwäche für Extremsportler (Huber-Brüder, Baumgartner,
McNamara), schrullige Intellektuelle und traumwandlerische Musiker,
Komponisten, Kunstschaffende im Allgemeinen.
Aller Anfangsskepsis zum Trotz schreitet das
Gespräch fruchtbar fort, beginnt vor dem Hintergrund der luziden Schilderungen physischer und
psychischer Grenzerfahrungen des 68-jährigen Bergsteigers, der mich schon als
Kind, vermutlich wegen seiner Frisur, an eine ältere Version meines eigenen Vater
erinnerte, um die großen existentiellen Fragen zu kreisen: Balanceakte über
Abgründen und das Genie des Wegsuchens, Haben und Sein, Sinnhaftigkeit und
Zweck, Abenteuer, Herausforderung und Überwindung, Intensität und
Selbsterhaltung.
Mein Zuschreibungsapparat funktioniert trotz der
fortgeschrittenen Tageszeit noch ausgezeichnet, das beweisen jene wilden
Assoziationsketten, die mein Hirn Messners Antworten kommentierend angedeihen lässt. Immer wieder rumort es im Hinterstübchen: Nietzsche, Nietzsche,
Nietzsche (Und wer über sich hinaus
schaffen will, der hat mir den reinsten Willen, Za II, KSA 4, S. 157)...und
ein wenig Bataille natürlich. Bergsteigen als riskantes Aussetzen des Lebens
"an den Rand der Möglichkeiten", um es mit gesteigerter Empfindung
wiederzuerlangen. Das bewusste Sich-Begeben in das nicht länger Kalkulierbare
verstehe nicht nur ich, so wird es im Laufe von Messners Ausführungen immer
deutlicher, als Affront gegen bürgerlichen Mäßigungswahn und
Optimierungslogiken sondern als (ästhetisches) Konzept der Verausgabung und Selbstüberschreitung,
auch wenn er die gedankliche Essenz auf eine andere Sprache stützt als ich,
andere Worte für dasjenige findet, das auch ich zu meinen glaube: "Ich
will, dass sich junge Menschen ausdrücken...die Arbeit ist sekundär, sich
ausdrücken ist viel wichtiger. Seinen Weg finden ist die Kunst...Und diese
Fähigkeit, etwas ganz zu machen, bis zur letzten Konsequenz zu machen, habe ich
auch beim Bergsteigen gelernt und nicht in der Schule.“
Als ich nach dem einstündigen Interview angeregt, inzwischen aber mit einer
gewissen Bettschwere ausgestattet, ins Schlafzimmer wanke, bin ich innerlich
von den mitgeteilten Erfahrungen noch derart bewegt, dass ich M., der mal
wieder Nachtschicht schiebt, noch schnell eine SMS schreibe: "Gerade ein
äußerst beeindruckendes Interview von Reinhold Messner gesehen und seitdem
überlegt, ob Nietzsche sich seinen Übermenschen in etwa so vorgestellt haben
könnte..." Eine morgendliche Lektüre des Zarathustra bestätigt meinen Eindruck:
Zarathustra aber sahe das Volk an und wunderte sich. Dann sprach er also:
Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, — ein Seil über einem Abgrunde.
Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.
Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.
Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden.
24. Oktober 2012
Der Blick von außen
Wie die Wahrnehmung der 27-jährigen Litauerin Alge, diese kleine Irriation bei der Konfrontation mit der als "deutsch" erlebten Daseinsform, ganz wunderbar mit meiner eigenen Empfindung zur Deckung kommt, gerade dann, wenn ich mir meine sportelnden Mitmenschen (ganz gleich ob schwimmend, bergwandernd, joggend, fahrradfahrend) lebendig vor Augen rufe. Und ob die auf dem Sektor der Freizeitgestaltung grassierende Spezialisierung, die gleichermaßen auch unser Verwaltungswesen mit seinen operativen Behörden erfasst, in struktureller Korrelation mit dem Abbau und der Verflachung anderer Gebiete, der Ausdünnung des umfangreichen Katalogs humanistischer Bildung etwa, stehen könnte, darüber sollte ich in einem weniger kulturpessimistischen Augenblick mal etwas systematischer nachdenken. Dann etwa, wenn die Gefahr, den Adornitisch-Horkheimerschen Platitüden argumentativ vorschnell auf den Leim zu gehen, vielleicht weniger groß wäre als heute. Vorerst aber bleibt mir nichts anderes übrig als unreflektiert zu meinem Punksein zu stehen.
26. März 2012
Eine Sprache finden
für all das, was die Grenze des Fassbaren überschritten hat, für dasjenige, was sich nicht sagen lässt. Eine Sprache, die die Worte von all der verlorenen Zeit sprechen lässt, die hinter uns liegt, die auf ewig vorüber ist. Eine Sprache meine ich, die das Innere transzendiert, sodass es vielleicht auch für Dich hörbar ist an Deinen verborgenen Orten, um dann etwas auszudrücken, das ich Dir schon lange nicht mehr von Gesicht zu Gesicht gesagt habe - seit dem Moment, an dem Dich Wille und Mut verlassen hat. Eine Sprache, von der ich spreche, die ich nicht greifen kann, ist es, um die ich ringe, die ich begehre. Sie, so meine Hoffnung, weil sie all dem Vergänglichen um uns herum etwas entgegenzusetzen hätte, das bleibend wäre, auch wenn wir am Ende des Tages wieder etwas mehr gestorben sind. Mehr habe ich nicht als die paar Worte, die ich zusammenklaube und die doch immer vorbeigehen müssen an der Art wie Du gelacht hast, wir wir tanzten in Berliner Sommernächten oder auf Decken lagen, unten wir und oben die Sterne. Damit erinnern wie wir die Lieder sangen, die vom Leben lieben handeln, Tequila tranken, machten Jägermeister platt, in den Mond schrien: "Verdammt, wir sind die geilste Gang der Stadt!". Einen kurzen Moment bin ich von den Songs dieser Platte derart getroffen (Ich weiß noch wie du sagtest:"Nie werd ich 27"), haben mich die Worte eines Anderen sprachlos gemacht (Mitten im offenarmigen Tanz auf brennenden Brücken/Wir waren: Auf ins Leben /doch ein Haufen Elend/Vielleicht liegt der Sieg darin einfach aufzugeben/Lass Tanzen und fliehn/Synchronisieren, funken Momente zum Takt der Musik/Stampfen im Beat, klatschen zum Lied/drängen und zieh'n/Klammern uns an süße Melancholie). Derart desorientiert, dass ich ruckartig vom Schreibtisch aufstehen muss und mich drei Minuten später, von der Sonne blind, vor meiner Haustür wiederfinde. Schwindelig: Bin immer noch da, wenigstens alles taub gemacht.
9. März 2012
Die Weisheit des Silens
Aus altem Kaugummipapier forme ich mir vor dem Schreiben, wenn schon keine Götzen aus alten Klorollen, die ich um himmlische Hilfe bei den Kraftakten des Textringens anbeten kann, denen ich im Übrigen heimlich alle Schuld an meinem irdischen Schicksal zur Last lege, satyrhafte Eselsohren. Immer gedeiht alles Gedankliche in meinen Händen zur montrösen Schwergeburt.
Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen Silen , dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich — bald zu sterben“.(Nietzsche, GT 3)
13. Februar 2012
Verschleudern von Vermögenswerten (Art. 165, Schweiz. StGB)
Dieses raumgreifende Misswirtschaften als Dauersymptom! Geld, Zeit, Konzentration. Alles rauscht einfach so ziel- und steuerlos dahin. Die Nächte werden gerade überlang. Morgens dann liege ich ab halb sieben hellwach, gleichzeitig bleischwer, untätig manchmal bis elf unter der Bettdecke und starre Schlaglöcher in die eintönige Decke. Dabei konnte ich noch nie so unbeschwert (und das war wirklich harte Arbeit) dem nachgehen, was ich nun, da es machbar wäre, täglich schmähe. Grausames Paradoxon. Und weil ich mich selbst darin beständig allzu wichtig nehme, zieht sich alles Angefangene bei mir immer bis ins Endlose und wird nur mit viel Anstrengung gegen innere Widerstände - wie die Ansprüche bis zur Decke aufgestapelt - zum Abschluss gebracht. Durchhalten, das gehörte wahrlich noch nie meinen Generaltugenden an. Demgegenüber die Omnipotenz des Erfindungsgeistes, während er täglich allerlei Vermeidungsstrategien ersinnt.
6. Februar 2012
Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Laufen
Das Quecksilber bezeugt zweistellige Werte unter dem Gefrierpunkt. Nach zehn Stunden intellektuellen Dauerbetriebs zieht es mich dennoch - die Kälte, die andere gar beklagen, ich genieße sie förmlich - mit doppelter Lage Thermoleggings und XL-Strickschal an die frische Luft. Am alten Mauerstreifen der Bernauer Straße entlang laufend und dann über das Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs wölbt sich über mich und den Schauplatz ein Himmel von furioser Luzidität. Gerade so transparent, so lichtern gar, als könne man direkt in das All schauen. In dieser klaren und eisigen Luft, die belebte Natur erstarrt, bin ich ganz unmittelbare Bewegung. Die schnellen Schritte lösen die Gedanken aus ihrer bleiernen Trägheit und versetzen sie in immer lebendigeren Fluss. Schritt für Schritt wuchert Gedanke um Gedanke, Imagination um Imagination. Abstraktiv schließe ich Kulturhistorie und Ontogenese, Barock und Pubertät kurz. Entgegen Nietzsches Einschätzung, der Barockstil entstünde unweigerlich inmitten des "Abblühens jeder grossen Kunst" zeigt sich mir das vitalistische Konzept der Epoche als ein agonales, sprich kompromissloses und strotzendes Aufblühen und nicht als Degeneration überreifen, totgeweihten Lebens. Unterwegs schleife ich mit der begrifflichen Nagelfeile immer beständiger an der Engführung der Phänomene. Überhaupt dieser, mein Hang zum Abseitigen, dem ich mit einer rohen Systematik Herr zu werden versuche, die angestrebte Verdichtung des Denkens, während alle Wärme des Körpers in seine Mitte sich zusammenzieht. Das Concentrare: ein psychophysischer Parallelismus; Leibniz' prästabilierte Harmonie, das eine Spiegelung des anderen. Durch das Laufen kommen die Überlegungen immer leichter über die ungegenständlichen Lippen des Hirns. Und als ich von dort hier hin zurücklaufe, weicht letztes fahles Scheinen einer gradiosen, alles überschattenden Opazität. Zuhause werde ich mir und dem Gefährten gefüllte Blätterteigtaschen mit Oliven, Basilikum und Feta kredenzen, sinniere ich bei bester Winterlaune. Doch zuvor werde ich mit Zettel und Stift noch schnell die reifen Früchte der im Laufen mit Nietzscheanischer Orthodoxie verfertigten Gedanken zu ernten versuchen, in der Hoffnung, bis dahin zumindest noch ein oder zwei Kerne aus dem Inneren ihres halbvergorenen Gehäuses aufgefangen zu haben.
4. Februar 2012
guttenborgen oder: Von der Erfindung neuer Verben
Nie werde ich jene Mitmenschen verstehen, die sich anschicken, pausenlos gegen die momentane Wetterlage zu protestieren. Für mich bietet das Berlinische Sibirien, das täglich im nicht enden wollenden Sonnenschein versinkt, ein Traum von einem Winter! Wer, zum Henker, frage ich mich insgeheim, sehnt sich unter diesen blendenden Voraussetzungen bloß nach minimalen Plusgraden und Fitzelniesel, der in die kleinste Pore kriecht? Nach einem ausgedehnten Spaziergang durch den Prenzl' Berg nach Pankow (und froh, die letzten Wochen keinen Schirm benötigt zu haben), weil das Hirn von philosophischer Lektüre bereits rauchte, die feinen Neuronennetze unter Dauerfeuer fast explodierten, mit Lolli im Mundwinkel, schaffte ich begleitet von frischem Minztee mehr als die halbe ZEIT und fand, um ein besonderes Fundstück reicher, nicht mehr zu meiner eigentlichen Arbeit zurück (Ach, Samstage!).
2. Februar 2012
Datenträgernostalgiker
Es ist Weihnachten 1996. Ich werde, gerade dreizehnjährig und freilich hochgradig pubertierend, von meinem Opa für ein festliches Foto auf die großelterliche Eckcouch dirigiert, zu Mutter, Vater, der Oma, Tante und Onkel, die dort bereits sitzen. Eilig arrangiert und akurat drapiert wird das Motiv, die kleine Familie. Schließlich wird dreimalig der Auslöser des Apparats im Plastikgehäuse betätigt. Ein seitdem nahezu deterministisches Ritual, weihnachtsstrukturierend.
Und, da, wie Christian Stöcker in seinem höchst unterhaltsamen Buch Nerd-Attack!, das die Kaltmamsell ob seines spritzigen Faktenreichtums kürzlich nebenan anpries, konstatiert, dass die Fähigkeit zur "Nostalgie eine der Eigenschaften [ist], die den Menschen vom Tier unterscheidet, weil er ein Bewusstsein seiner selbst und seiner Geschichte besitzt", bietet die Erinnerung an den ratternden Kasten auch meinem Leben einen unermesslichen, oft allzu unterschätzen Halt im Getose des 21. Jahrhunderts. In einem Zeitalter nämlich, das vom beständigen "Verschwinden des Analogen" gekennzeichnet ist, ertönt mit dem knirschend knatternden Mechanismus gleichzeitig der Schwanengesang einer längst überholten Technik. Da meine überstarke Datenträgernostalgie, (insbesondere das Medium Buch betreffend) jedoch meist ohne die monierten "agressiven Züge" auskommt, sondern sich eher mit der Melancholie zu paaren gesellt, frage ich mich jedes Jahr auf's Neue, ob mein armer Opa im Jahre 2012 für die Abzüge erst mühsam in das Auto oder den Bus steigen muss, in die nächste größere Stadt zu gelangen, um die paar geknipsten Weihnachtsbildchen zu entwickeln, weil ja alle Fotogeschäfte in der Kleinstadt bereits seit Jahren geschlossen sind. Der alljährlichen Betätigung des alten Kastens tun jene Unwägbarkeiten jedoch bisher keinen Abbruch.
15. November 2011
Man ist ja immer auch ein Anderer (vielleicht schon jede Zehntel Sekunde)
Ich habe zum Beispiel ein Mädchen sehr lange geliebt. Wir waren sieben Jahre zusammen. Die hat mich auch erfunden, da komm ich auch her. Die Bücher, die die gelesen hat, waren mir vorher fremd. Wie die so Eierkuchen gemacht hat, das habe ich noch nie gesehen. Was die so für Musik gehört hat, wie sie sich bewegt, wie die riecht, das sind so Dinge, das macht ja auch was mit einem, das verändert einen ja auch. [...]. Wenn man sieben Jahre lang nicht nur Körperflüssigkeiten, sondern alles Mögliche austauscht, in einem Alter, wo man schon reif, aber vielleicht noch nicht ganz reif ist, dann ist das vielleicht auch meine Herkunft.
Als ich Dich, 90 Minuten nach Pollesch allein auf der Bühne agierend, vor einem Jahr im Großen Haus der Berliner Volksbühne zum ersten Mal bewusst wahrnahm, fühlte das sich fast wie eine Erleuchtung an.
14. November 2011
Das Leben der Anderen
Wenn sich die Novembernacht mit dunstiger Sanftheit über Berlin wölbt und ich über die kleine Brücke am Bodemuseum den Blick auf das Wasser und in Richtung Alex gerichtet mit eiskalten Händen heimwärts hinüber radele, erwachen inmitten des flimmernden Dämmerns die Gedanken an die anderen Leben. Wie sich das wohl anfühlte, jenes sensible-pour-soi unter der fremden Haut erfahren.
13. November 2011
27. September 2011
Über Bücher in Büchern, Vol. 1
Nie, wirklich niemals könnte ich bei Verstand über mich bringen, was Chip, besessener Tittenfetischist und Protagonist in Franzens corrections, anrichtet. Jenen besagten Brüsten, zunächst noch angekleidet, nämlich derart häufig kulinarische Genüsse zu verschaffen, in der festen Hoffnung, die lästige Kleidung darüber würde sich vermöge der befriedigten Sättigung in Luft auflösen, dass die Liquidität irgendwann so sehr eingeschränkt ist, dass er Buch für Buch aus seinem Bücherregal zu eliminieren beginnt, um Julia, die Angebetete, die bis zu dieser Stelle des Romans außer Brüsten nicht viel auszeichnet, nur weiter ausführen zu können:
Dass er geglaubt hatte, seine Bücher würden ihm Hunderte von Dollar einbringen, war erbärmlich offenkundig. Er wandte sich von ihrem vorwurfsvollen Rücken ab und erinnerte sich, wie jedes einzelne von ihnen damals, in den Buchhandlungen, eine radikale Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft verheißen hatte und wie glücklich er gewesen war, sie nach Hause zu tragen. Aber Jürgen Habermas hatte nicht Julias lange, kühle Birnbaumbeine, Theodor Adorno nicht Julias traubigen Duft lüsterner Geschmeidigkeit, Fred Jameson nicht Julias geschickte Zunge. Bis Anfang Oktober, als Chip sein fertiges Drehbuch an Eden Procuro schickte, hatte er seine Feministen, seine Formalisten, seine Strukturalisten, seine Poststrukturalisten, seine Freudianer und seine Schwulen samt und sonders verkauft. Alles, was ihm noch blieb, um das Geld für ein Mittagessen mit seinen Eltern und Denise aufzubringen, waren seine geliebten Kulturhistoriker und seine gebundene Arden-Shakespeare-Gesamtausgabe, und da dem Shakespeare eine Art Zauber innewohnte - die uniformen Bände in ihren hellblauen Schutzumschlägen glichen einem Archipel sicherer Zufluchtsorte -, stapelte seine Foucaults, Greenblatts, Hooks und Pooveys in Einkaufstüten und verscherbelte sie komplett für 115 Dollar.
Ich weiß nicht, ob der Anzugträger, mir in der Bahn gegenüber sitzend, gemerkt hatte, dass ich mir auf die Zunge biss als meine Augen diese Stelle gestreift hatten. Er lächelte jedenfalls komplizenhaft. Vielleicht hatte ich vor lauter Erregung auch spontan vor mich hin gemurmelt, vielleicht sogar ganze Sätze meines Unglaubens artikuliert. Und all das für ein paar Brüste, unverständlich! Ich selbst würde, wäre ich derart versessen auf die Dinger, auf den minimalsten Auswuchs an Luxus verzichten, damit ich sie, meine über junge Jahre gesammelten Schätze, behalten kann: diese Gesamtausgaben von Nietzsche, Foucault, Cioran, Alexander von Humboldt, Kant, Barthes, Deleuze, Schopenhauer, Leibniz und Benjamin, diese monumentale Sammlung an philosophischen Einzelausgaben, die Schmuckausgabe der Essais von Montaigne sowie die zahlreichen Romane, Lyrikbände, Monographien, mindestens tausend an der Zahl. Ich würde meine elektrische Zahnbürste, meine WMF-Pfanne, meine teuersten Lederstiefel hergeben, um nur diese meine Zufluchtsorte unangetastet zu belassen. Sollte auch all dies nichts nützen, würde ich mich, freilich mit erheblicher Gegenwehr, in ähnlicher Reihenfolge trennen wie Chip. Vor den Marxisten würden jedoch die Freudianer daran glauben müssen und die Poststrukturalisten kämen genau wie die Kulturhistoriker erst am Ende zum Zuge.
6. September 2011
Whose woods
Henry James in einem Brief an seine Söhne: "Einem jeden, der zumindest den geistigen Kinderschuhen entwachsen ist, dämmert der Verdacht, daß das Leben keine Farce ist, daß es nicht einmal eine elegante Komödie, daß es im Gegenteil aus den tiefsten tragischen Tiefen des essentiellen Mangels erblüht und Frucht trägt, jenes Mangels, in den die Wurzeln seines Gegenstandes versenkt sind. Das natürliche Erbe eines jeden, der eines geistigen Lebens fähig ist, ist ein ungezähmter Wald, in dem der Wolf heult und der obszöne Vogel der Nacht plappert."
Von dort, wo des Waldes Dickicht einem glanzlosen, ganz und gar gezähmten Eden weicht, von dorther bin ich gekommen, ein wenig vergiftet inzwischen von den bitteren Äpfeln, die ich als Reiseproviant von den Ästen gepflückt hatte und deren Gehäuse ich achtlos in das Gras warf. Des geistigen Lebens fähig, gebäre ich seitdem täglich hundertköpfige Schimären. Degenerierte Surrogate eines Geistes, der Wurzeln im Diffusen des Unterholzes schlägt anstatt dem Licht der Krone entgegenzuwuchern.
8. August 2011
Lebenssinne
Ich bin ein Mann, für den bestimmte Dinge von Bedeutung sind: Härte, Selbstdiszplin, Vernunft, das Streben nach allem, was edel ist, ohne auf die Krücke Gott zurückzugreifen. Das Ideal von Schönheit, die Aussicht auf Erhabenheit, der Geist. Ich bin: ein verheirateter Mann. Saladin Chamcha
Ich bin eine Frau, die vielen Dingen große Bedeutung beimisst: Selbstbestimmung, Hingabe, Ehrgeiz, Zerstreuung und im gleichen Maße Verstand sowie dem Streben nach allem, was edel ist und frei macht. Gott habe ich dafür argumentativ nie in Anspruch nehmen müssen. Das Ideal von Schönheit, Erhabenheit, der Geist. Ich bin: mir manchmal glücklicherweise etwas entledigt.
7. August 2011
Reisen
Während Regenlandschaft draußen vorbeizieht, die im Laufe der langen Zugstunden irgendwann von imposanten Kumulusformationen abgelöst wird, lerne ich, die mich sonderbar verwirrenden Satanischen Verse im Schoß, das Lesen immer wieder unterbrechend, Nietzsches Wanderer auswendig aufzusagen. Anlässlich eines selbstauferlegten Projektes, mir bis zum Ende des Jahres wieder ein einer Geisteswissenschaftlerin halbwegs angemessenes lyrisches Repertoire raufzuschaffen, werde ich das gute Dutzend dann zu Silvester hoffentlich jukeboxartig abspielen können.
Zwischendurch, in den Konzentrations- und Lesepausen, derweil Hot Chip süffisant in mein Ohr plärrt und Landschaft undefiniert vorbeischwebt, steht es mal wieder hell und klar vor Augen - ein fast schon Cartesianisches clara et distrincta -, die beständige Affirmation des Ichs durch rigide selbstdisziplinatorische Praxis in Bewegung gehalten, all das selbstverständlich stets gemischt mit ein wenig Sadomasochismus.
Und immer wieder diese Erinnerungsfragmente an die zu Beginn des Jahres gelesenen Reisejournale Willemsens. Heimgekehrt, dann normal nachgeschlagen und die betreffende Stelle gleich gefunden:
In der Nacht schwoll mein Knie so weit an, dass ich am nächsten Tag das Zimmer nicht verlassen konnte und an den folgenden Tagen auch nicht [...]. Die meiste Zeit lernte ich Gedichte auswendig oder blickte an die Decke [...]. Reisen, so kam es mir in diesem Moment vor, das war wie die Projektion der Heimat auf fremde Tapete. Dort findet man das Haus, das man verlässt und auslöscht, fühlt die Verankerung, die man vergessen machen wollte.
3. August 2011
Oder ists nur phantasey, die den müden geist betrübet?
Beim Versuch das Wesen des Melancholischen intellektuell aufzuspießen, führt Benjamin der Weg zu den Kontemplationen Aegidius Albertinus: Denn mit dem Melancholischen ist es "zu Anfang als mit Einem, den der tolle Hund gebissen hat: es kommen ihm erschreckliche Träume, er fürchtet sich ohn' Ursach. [...] Also vergehen ihm bei lebendigem Leibe die Sinnen, denn er siehet und höret manchmal nicht mehr die Welt, so um ihn her lebet und webet, sondern allein die Lügen, so der Teufel ihm ins Gehirn malet und in die Ohren bläst, bis er am letzten Ende anhebt zu rasen und in Verzweiflung vergeht."
Im konspirativen Bund stehe auch ich, seit ich denken kann, mit der Schwermut. Sie, die gedankenversunkene und so sehr abgewandte Seite der Bipolarität, die durch das Schreiben und die Grübelei hervorgerufen wird.
31. Juli 2011
"Das grösste Schwergewicht. - ...alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen" - Fröhliche Wissenschaft, Aph. 341
Selbstrezitation:
"Vor einem Jahr bin ich im strömenden Regen durch die Stadt gefahren, frierend, weinend und hoffnungslos. Heute gehe ich nach draußen in die wärmende Sonne und weiß, was immer auch passiert, dass nichts umsonst gewesen ist." - 22.09.2006
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