6. Februar 2012

Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Laufen

Das Quecksilber bezeugt zweistellige Werte unter dem Gefrierpunkt. Nach zehn Stunden intellektuellen Dauerbetriebs zieht es mich dennoch - die Kälte, die andere gar beklagen, ich genieße sie förmlich - mit doppelter Lage Thermoleggings und XL-Strickschal an die frische Luft. Am alten Mauerstreifen der Bernauer Straße entlang laufend und dann über das Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs wölbt sich über mich und den Schauplatz ein Himmel von furioser Luzidität. Gerade so transparent, so lichtern gar, als könne man direkt in das All schauen. In dieser klaren und eisigen Luft, die belebte Natur erstarrt, bin ich ganz unmittelbare Bewegung. Die schnellen Schritte lösen die Gedanken aus ihrer bleiernen Trägheit und versetzen sie in immer lebendigeren Fluss. Schritt für Schritt wuchert Gedanke um Gedanke, Imagination um Imagination. Abstraktiv schließe ich Kulturhistorie und Ontogenese, Barock und Pubertät kurz. Entgegen Nietzsches Einschätzung, der Barockstil entstünde unweigerlich inmitten des "Abblühens jeder grossen Kunst" zeigt sich mir das vitalistische Konzept der Epoche als ein agonales, sprich kompromissloses und strotzendes Aufblühen und nicht als Degeneration überreifen, totgeweihten Lebens. Unterwegs schleife ich mit der begrifflichen Nagelfeile immer beständiger an der Engführung der Phänomene. Überhaupt dieser, mein Hang zum Abseitigen, dem ich mit einer rohen Systematik Herr zu werden versuche, die angestrebte Verdichtung des Denkens, während alle Wärme des Körpers in seine Mitte sich zusammenzieht. Das Concentrare: ein psychophysischer Parallelismus; Leibniz' prästabilierte Harmonie, das eine Spiegelung des anderen. Durch das Laufen kommen die Überlegungen immer leichter über die ungegenständlichen Lippen des Hirns. Und als ich von dort hier hin zurücklaufe, weicht letztes fahles Scheinen einer gradiosen, alles überschattenden Opazität. Zuhause werde ich mir und dem Gefährten gefüllte Blätterteigtaschen mit Oliven, Basilikum und Feta kredenzen, sinniere ich bei bester Winterlaune. Doch zuvor werde ich mit Zettel und Stift noch schnell die reifen Früchte der im Laufen mit Nietzscheanischer Orthodoxie verfertigten Gedanken zu ernten versuchen, in der Hoffnung, bis dahin zumindest noch ein oder zwei Kerne aus dem Inneren ihres halbvergorenen Gehäuses aufgefangen zu haben.