3. Oktober 2010

"Die Zunge ist ein Dolch des Mundes"

sagt ein spanisches Sprichwort.


Diese Messerstiche des Mundes sind es, die wir uns in unserer Angst allgegenwärtiger Verletzbarkeit viel zu selten zumuten.
Am Einheitstag ist die Königin der Oralwerkzeuge in ihrem Einsatz leider eher verhalten, in ihrer Stichhaltigkeit abgestumpft und seltsam zurückgebunden.
Daher muss das Berliner Gorki, "weil man die Feste feiern soll, wie sie gelegt werden", mit seinen Szenischen Miniaturen dasjenige zu retten versuchen, was längst nicht mehr zu retten ist, und in einer bittersüßen Reminiszenz an Kohls prophezeite Blühende Landschaften reinen Tisch machen mit deutschen Volksmythen, Sprachvertrauen und dem Glauben daran, dass alles durch Zauberhand und beharrliches Warten irgendwann besser wird als es gestern war.
Mit glühenden Wangen lauschte ich also Brinkmanns - mein Liebling! - auf einer Perlenkette aufgereihten Meckereien über die bundesrepublikanische Realität der späten 60er Jahre, lachte hysterisch über die Inszenierung PeterLichts - der Mann, dessen Gesicht keiner kennt - Die Geschichte meiner Einschätzung am Anfang des dritten Jahrtausend und blieb erstarrt und atemlos in meinem Stuhl gefesselt und von der Schwerkraft der messianischen Worte Ingeborg Bachmanns ALLES niedergedrückt:
"Früher hatte ich gedacht, ihn die Welt lehren zu müssen. Seit den stummen Zwiesprachen mit ihm war ich irregeworden und anders belehrt. Hatte ich es, zum Beispiel, nicht in der Hand, ihm die Benennung der Dinge zu verschweigen, ihn den Gebrauch der Gegenstände nicht zu lehren? Er war der erste Mensch. Mit ihm fing alles an und es war nicht gesagt, daß alles nicht anders werden konnte durch ihn. Sollte ich ihm nicht die Welt überlassen, blank und ohne Sinn? Ich mußte ihn ja nicht einweihen in Zwecke und Ziele, nicht in Gut und Böse, in das, was wirklich ist und was nur so scheint. Warum sollte ich ihn zu mir herüberziehen, ihn wissen und glauben, freuen und leiden machen! Hier, wo wir stehen, ist die Welt die schlechteste aller Welten, und keiner hat sie verstanden bis heute, aber wo er stand, war nichts entschieden. Noch nichts. Wie lange noch?"
Daher: Liebes Gorki, danke, dass Du mir an einem Tag wie heute, an dem die deutsche Medienlandschaft den Fall der großen Mauer  vor 20 Jahren zelebriert und tausend Mauern, die seitdem wieder wachsen, artig verschweigt, das Denken gestattet und um viele neue Fragen angereichert hast. Aus Deinen Fittichen entlassen gehe ich wie immer innerlich bewegt sowie gedanklich verzaubert von meinem tapferen Vertrauten begleitet durch die frische Herbstluft nach Hause.