16. Oktober 2010

Ode an den Samstag!



Ein Samstag, wie er im Buche steht. Der Regen weckt mich gegen 8 Uhr, mit schweren Lidern und vom gestrigen Schwimmbadbesuch auch in Mitleidenschaft gezogenen Gliedern quäle ich mich in die Vertikale, denn Zettis Knusperflocken rufen aus Richtung Wohnzimmer laut nach mir. Ein paar Seiten Agamben zur Geburt des Souveränitätkonzeptes der Moderne aus der Integration des nackten Lebens in die Politik und die Vorsätze lösen sich zu Gunsten der Horiziontalen unter der von M. kuschelig-warm gehaltenen Decke in Luft auf, die Äuglein fallen einfach wieder zu. Beim nächsten Aufwachen zeigt mein Wecker das Verstreichen einer Stunde an. Es ist nun kurz nach 9, der Himmel grau wie zuvor, nur der Regen hat aufgehört.So viel Arbeit liegt vor mir, also schnell hoch und Kaffee gekocht, Frühstück kredenzt, M. geweckt und dann die Frage des Morgens.
Plötzlich steht sie im Raum: Laufen die Pilger zu Fuß nach Mekka oder wie? Fatal! Daraus ergeben sich gleich hundert andere:  Wie und vor allen Dingen wo leben überall potentielle Pilger? Wie kommen die dahin? Seit wann pilgert man? Kurze Kritik der Kreuzzüge als Pilgerfahrt der Christenheit, dann weiter: Waren die Heere der Besetzer Jerusalems nicht lächerlich klein? Hat es die Schlacht im Teutoburger Wald je gegeben? Herzlich willkommen bei uns zu Hause! Ja, die Geschichtsstunde hat soeben gegonnen und nun werden Atlas, Lexikon und I-Phone flink herbeigeholt. Wir einigen uns hinsichtlich des erschlagenden Massen historischer Stoffe für die Entstehung und den Untergang des Byzantinischen Reiches. Wie wir genau darauf kamen? Keinen Schimmer! Die letzten Gesprächbrocken, an die ich mich erinnere, hatten Barbarossa zum Thema. Eine halbe Stunde Dilettantengeschwätz, wilde Dikussionen, was zum endgültigen Niedergang des Imperium Romanum beitrug, wie die Christianisierung imeinzelnen vorangetrieben und verbreitet worden ist und wo genau der Übergang von Spätantike zu frühem Mittelalter zu verorten ist. Haben wir beide im Geschichtsunterricht gehabt und beide vergessen. Die Uhr sagt mahnend: Geh endlich los! Also schnell in der Eile Kaffee die Kehle hinutergeschüttet, die halbe Tasse landete auf dem frisch angezogenen weißen Rock mit Pünktchen. Die Flecken bleiben zunächst unbemerkt. Den schweren Rucksack geschultert, die Thermoskanne dabei, den festen Vorsatz nochmal Geschichte zu studieren (mit Schwerpunkt Spätantike) und noch schnell den Agamben für die Bahn geschnappt und los! Ich bin bestens gerüstet.
Der Weg zur Bahn hat trotz Regen strahlende Farben zu bieten. Konnte die ganzen Stubenhocker eh nie ganz verstehen. Die Bahn kommt pünktlich, jippie! Ich finde sofort einen bequemen Platz am Fenster. An mir zieht urbane Gräue vorbei, Ruinen, regenschwere Bäume, aschfahle Menschen. Dazwischen Strahlen: rot, gelb, braun und noch ein ganz klein wenig grün, vorm Herbst noch etwas Schonfrist. Die sonore Opernstimme des Motzverkäufers reißt mich aus der Foucault-Replik Agambens: Diese Intonation, der Witz, das Kecke und Wache in der Stimme. Die ganze Prosodie, der Wahnsinn! Da bezahlen die Herrn Intendanten für die Besetzung des Faust, des Woyzeck, des Hamlets, des Siegfrieds usw. einen Arsch voll Geld und könnten doch den hier nehmen. Ehrlich, ich bin hingerissen, will ihm sofort ein Studium finanzieren. Trau mich aber nicht, ihms zu verkünden. Als er sich dann den gummibestiefelten Kindern einer ältlichen Mama nähert und seine Monstergeschichten auspackt, ist es um mich geschehen. Ich lache quietschend vor Freude los, als wär ich gleich beide Kinder auf einmal. Mein Banknachbar lacht auch, ist scheinbar gleichermaßen leicht zu beglücken wie ich und zudem Mathestudent, zumindest sieht das da, was er in der Hand hält, für mich stark danach aus. Der vom Motzianer angekündete Zustieg  des Gitarristen am Bahnhof Feuerbachstraße bewahrheitet sich. Er ist zwar kein musikalisches Talent, aber das Geklampfte findet trotz allem den direkten Weg zu mir und ich groove beschwingt weiter durch den Agamben. Lichterfelde West: I'm gonna leave the train now. Der Mathematikstudent bleibt sitzen...Schade! Beim zügigen Marsch durch Dahlemer Berge von Blattgold fallen mir nun die braunen Flecken ins Auge: So'n Mist! Als Belohnung staube ich aber das schönste rubinrote Ahornblatt Berlins ab, über das ich einfach so stolpere. Schnell aufgehoben und weiter in den Siebenmeilenstiefeln. Ankunft: Das Blatt auf die Schnelle abgewaschen und zwischen den Deleuze-Notizen platt gedrückt, danach oberflächliches Widmen der Kaffeeflecken und sofort den besten Platz in der Bibliothek erwischt.
Es gibt Tage, da läuft einfach alles richtig! Danke Samstag!