Den ganzen Tag verfolge ich – nicht ohne innere Bewegung – im Radio und im Öffentlich-Rechtlichen die Berichterstattungen zum Tag der deutschen Einheit, ärgere mich morgens am Küchentisch, während der M. ob der Verbissenheit in meiner Stimme mal wieder die Augen verdreht, kurz über Gysi und seine dummdreisten Faseleien, von Unrechtsstaat könne ja keine Rede sein, und spüre einmal mehr, dass auch ich, so klein ich als im Jahr 83 Geborene auch war, betroffen bin von dem Sog der Ereignisse, der Kraftanstrengung, dem Mut, der Euphorie einer gegen die Verhältnisse aufbegehrenden Generation. Dass sie tief vergraben liegen in der, die ich heute bin. Überwältigend diese Bilder und Stimmen aus dem Herbst 1989 und mitten in dem unaufhörlichen Strom auch meine Eltern und ich auf dem Weg ins Ungewisse. Mitten im Nirgendwo und doch gleichsam Teil einer großen Bewegung. "Ein Moment unverhofften Glücks, der sich nicht abträgt", sagt Ines Geipel in ihrer persönlich Rückschau auf diesen wichtigsten Moment ihres Lebens; sie, die sie wie wir der DDR an der grünen Grenze den Rücken kehrte, nichts ahnend, dass der Staat, in dem sie einst lebte und dem sie sich längst entwachsen fühlte, wenige Monate später für immer Geschichte sein würde.
3. Oktober 2014
10. September 2014
Eierlikör
Auch die Nachricht, dass sie am Vorabend ihres Todes mit meinen Tanten in ihrem alten Haus würfelnd beisammensaß, nachdem jene sie auf ihren Wunsch nach Hause geholt hatten, und sich im Laufe des Spieles auch ein Gläschen Eierlikör munden ließ, lässt mich immer wieder schmunzeln, so traurig ich bin. Überhaupt strömen die vielen Bilder und lebendigen Erinnerungen, die ich längst vergessen glaubte, nur so aus mir hervor: Die skurrilen Gruselgeschichten, die sie mir vor dem Einschlafen erzählte und die manchmal solch' grobe narrativen Mängel aufwiesen, dass wir beide lachen mussten, ehe sie auserzählt waren. Das schwere Federbett, in das ich dick eingemummelt neben ihr lag, in dem wir morgens NDR1 hörten und auch der Nachttopf neben dem Bett, damit mir in der Nacht die dunkle Treppe erspart blieb. Unzählige Nachmittage mit meinen Eltern, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen in ihrem Garten unter einem endlosen Sommerhimmel, das Kohleschippen und ihre stets im ostfälischen Börde-Platt verpackten Erzählungen von der näherrückenden Ostfront, dem Ende des Krieges und dem Wiedersehen mit meinem Opa, der Anfang der 60er-Jahre starb als mein Vater noch ein Kleinkind war. Diese auf den ersten Blick immer etwas konfus wirkenden, verschachtelten Ausfächerungen und Verzweigungen erzählten Lebens, deren Zusammenführung ihr trotz des 90. Lebensjahres bis zum Ende routiniert gelang – vielleicht auch das von ihr geerbt. In den letzten Jahren waren sie immer häufiger mit dem Aufruf gespickt, der liebe Gott möge das Nachsehen haben und sie nach einem derart langem und randvollen Leben endlich zu sich holen, denn genug sei nun einmal genug.
Vor allem aber ihr aufbrausender Charakter, der cholerische Grundzug, den selbst das Alter nicht abzumildern im Stande war, der sie das Besteck oder Geschirr auf den fast gedeckten Abendbrottisch schmettern ließ, wenn ihr irgendetwas nicht passte, ist es, der sich zweifelsohne sowohl bei meinem Vater als auch bei mir wiedererkennen lässt, der selbst im ungestümen Wesen der kleinen L. durchzuscheinen beginnt und auf eine seltsame Weise und über den Tod hinaus ein unauflösliches Band zwischen uns knüpft.
9. September 2014
Oma
Vier Schnaps, ein Bier und eine durchwachte Nacht später den ganzen Tag über, auf dem Weg in die Schule und auf dem Heimweg, zwischen den Unterrichtsstunden und der heimischen Vokabelplackerei mal still, mal lauter, mal verzweifelt geweint. Vor allem schmerzt mich, dass ich sie vor fast anderthalb
Jahren mit der fast noch frischgeborenen L., ihrer Urenkelin, im Schlepptau das letzte Mal sah und seitdem die Chance nicht mehr ergriffen hab, sie, bevor
sie am Samstag gestorben ist, nochmal zu besuchen. Das einzige, was mich ein bisschen tröstet: die
Tatsache, dass sie nicht auf harten Liegen und in sterilen Zimmern monate-
vielleicht sogar jahrelang herumvegetieren musste, dass ihr zumindest
diese letzte Würde geblieben ist, dass zwei ihrer Kinder (mein Onkel und meine Tante) sie in den
letzten Stunden begleitet haben und sie nicht alleine gewesen ist. Seit langem auch wieder diesen Schmerz gespürt, der alles zusammenschnürt, diese Enge in der Brust, die mich kaum atmen lässt. Und immer wieder auf dieses Foto geschaut: Sie, lächelnd und den Arm um mich gelegt, ich, fast vierjährig auf einem Geschenkband herumknabbernd neben ihr auf dem Sofa sitzend. Genau beäugt von der Katze, die auf einem Kissen unter dem lamettageschmückten Baum sich platziert hat. Wann immer gerade mein Blick darauf fällt, trotz der unzähligen Stiche im Herzen auch eine unbeschreibliche Wärme bei dem Gedanken verspürt, wie lieb sie mich einmal gehabt hat und wie lieb sie mir war und ist.
4. September 2014
Sentimentalitäten
"Weil ich schon keinen Papa mehr habe", flüstert die 8-jährige A., während ich mit den Korrekturen ihrer Deutschaufgaben beschäftigt bin, halb zu mir, halb zu ihrem Tischnachbarn, dem O., "werde ich ganz allein sein, wenn die Mama mal stirbt. Nur die Zwillinge werden dann noch bei mir sein." Es trifft mich mitten ins Herz. Vier Tage erst her, seit ich das erste Mal ihre Klasse betrat. Vier Tage und schon fängt man an, die so gern zu haben, dass man sich jetzt schon wappnet für den Moment, wenn man sie in naher Zukunft schon wieder verlässt. Welche Stille dann einkehren, wenn der Winter ganz den Büchern vorbehalten sein wird, verglichen mit dem quirligen Kichern, Murmeln, Flüstern, Necken, dem permanenten Bewegtsein von 29 Grundschülern. Bereits die K. und die J. hatten mir in einem gruppentherapeutischen Seminar für angehende Lehrer in weiser Voraussicht prophezeit, dass ich bei jedem Abijahrgang, jeder Klasse, die ich verabschieden muss, weinen würde und ich glaube immer mehr, sie könnten rechtgehabt haben.
3. September 2014
Amor fati
Viel zu viel Lebenszeit verschwendet an vergebliche Wünsche, irgendwie anders zu sein. Ausgeglichen (statt andauernd aufbrausend), zierlich (statt athletisch), ein wenig kleiner (statt in selten getragenen Heels fast 1,90m groß), durchorganisiert (statt chaotisch und impulsiv), mit geschmeidig glattem Haar (statt mit wilder, widerspenstiger Mähne), auch karriereorientierter (statt verliebt und versunken in unzählige Wissensgebiete, die immer nur weiter ausufern). Und doch an dieser Stelle meines Lebens auf eine seltsam ungewohnte Weise ins Reine gekommen, sehr zufrieden mit allem, den früheren Weichenstellung und Entscheidungen, die mich an diesen Punkt führten. Längst verlassen die Sphären des rein Hypothetischen des "Was wäre wenn?". Den theoretischen Erwägungen eine Haltung an die Seite gestellt, die ganz im Handeln verwurzelt ist und das Gegebene nicht nur annimmt, sondern tatkräftig gestalten will. Auf dem Weg jedenfalls.
Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati:
dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in
alle Ewigkeit nicht. Das Nothwendige nicht bloss ertragen, noch weniger
verhehlen — aller Idealismus ist Verlogenheit vor dem Nothwendigen —,
sondern es lieben…
Nietzsche: Ecce Homo – Warum ich so klug bin, § 10
1. September 2014
Erster Schultag
Mein erster Schultag ist übervoll von Eindrücken. Das
Setting: jahrgangsübergreifendes Lernen von Klasse 1–3. Während sich für mich
als Außenstehende sofort erkennbar ost-westdeutsche Gräben durch das
Lehrerzimmer ziehen, warten auf dem Hof unter einem grauen Herbsthimmel seit
halb acht Erstklässler in gespannter Erwartung auf ihren ersten Schultag, ihre
ungeduldigen Eltern zugleich auf eine möglichst baldige reibungslose und vor
allem glückende Integration in unser Bildungssystem – der Garant für den
späteren beruflichen Erfolg ihrer Schützlinge! Einige von ihnen werden erst in
wenigen Monaten sechs Jahre alt, manche sind von derart zarter Statur, das man
glauben könnte, sie würden unter ihrem tonnenschweren Tornister noch auf der
Stelle zusammenbrechen, wenn der Small-Talk mit ihren engagierten Eltern nur
noch wenige Minuten länger andauerte. Viele der insgesamt 27 Kindergesichter
sind mir als Mutter einer Anderthalbjährigen von den umliegenden Spielplätzen
her bekannt und auch ihre Eltern, so meine ich zu vernehmen, blinzeln mir bei ihrer
Übergabe verschwörerisch zu.
Im Hintergrund des Unterrichtsgeschehens liegt, trotz der
tatkräftigsten Bemühungen ihrer passionierten Lehrerin, die ich in den kommenden Wochen beobachten und unterstützen darf, eine spürbare
Anspannung in der Luft. Ein diffuser Leistungsdruck, der manche nicht so
robuste (fast) Sechsjährige, die noch keine adäquate Strategie entwickelt
haben, diesen Spannungsgefühlen standzuhalten, am Ende ihres ersten Tages in
sich zusammensinken und verzweifelte Tränen weinen lässt. Der von einer
quasihomogenen gutbürgerlich-akademischen, ortansässigen Arkonaplatz-Klientel
der Ende der 1960er / Anfang der 1970er Geborenen (diesen „Oma-und-Opa-Eltern“,
wie meine Schwiegermutter, als junge Mittfünfziger-Omi, etwas despektierlich zu
sagen pflegt), mit ökologisch-alternativ orientierter Lebensweise, finanziellen
Spielräumen und Montessori-Einschlag, nach Vorbild der eigenen Eltern, denen
man früh in ein aufregendes Nach-Wende-Berlin entfloh, in die bereitwilligen
Kinder frühzeitig eingesät worden ist, um die eigene Furcht vor einem unwiderruflichen Scheitern am
Leben wenigstens ein bisschen zu betäuben. Machen wir uns nichts vor: Dass alle
Formen staatlich institutionalisierter Erziehung und Bildung, um Individuen
gesellschaftsfähig zu machen, zwangsläufig
auch mit Zu-(Ab-)richtung verbunden sind, dazu muss man wahrlich nicht Foucault
gelesen haben, dass Disziplinartechniken jedoch auf noch viel perfidere Art und
Weise – ein angesehener Chirurgenvater züchtigt seine 8-jährige Tochter bei Lernverweigerungshaltung, indem er sie im
Bedarfsfalle kalt abduscht – schon in
den Herkunftsfamilien zum Standard erzieherischer Praxis gehören und die Kinder
in der Schule erstmals Freiräume verspüren, die sie von zu Hause nicht kannten,
das macht mir schon irgendwie ein wenig Bauchschmerzen. Gerade, wenn ich mir vorstellen
muss, dass ich diese Kinder-Eltern-Paare in den nächsten Jahren in meinem
unmittelbaren Nahbereich öfter zu sehen bekomme, und, was ebenfalls nicht
auszuschließen ist, in höheren Klassenstufen bald selbst in meinem
Latein-, Deutsch- oder Philosophieunterricht begrüßen dürfte.
27. August 2014
Tragische Heiterkeit
Nach langer Abstinenz: Neuerliche Lektüre von Nietzsches Unzeitgemäßen Betrachtungen III (Schopenhauer als Erzieher). Die erste Leseerfahrung inzwischen in unendliche Ferne gerückt, immerhin fast 10 Jahre her, kaum noch erinnerlich daher in ihren Einzelheiten. Trotz vermeintlicher Abgeklärtheit noch immer begeistert von der ihnen zugrundeliegenden Konzeption (dem metaphysischen Überbau), der in Szene gesetzten Dialektik von Heiterkeit und Schwermut. Im Subtext läuft freilich meine ganz eigene, triviale Lesart: die vermessene Applikation der philosophischen Begriffe auf das eigene Leben: Aliis laetus, sibi sapiens.
26. August 2014
Nach Art der Bärin
Cum Georgica scriberet, traditur cotidie meditatos mane plurimos versus dictare solitus ac per totum diem retractando ad paucissimos redigere, non absurde carmen se ursae more parere dicens et lambendo demum effingere.
Vitae Vergilianae, 22
Meine vergilianische Arbeitsweise: Von einem blinden Aktionismus geleitet, produziere ich in immensen Kraftanstrengungen beständig irgendwelchen Output, den ich Tags darauf verwerfe, selten auf wenige Wörter und Gedankensplitter zusammenstreiche. Auf diese Weise landete damals eine 180-seitige Magisterarbeit (inkl. diverser Anhänge) – ein drei Jahre währendes Mammutwerk – auf dem Scheiterhaufen der Geschichte und binnen postnataler Mutterschutzzeit musste geschwind eine neue her, was nur in einem Zustand des schreibenden Wahns gelang; letztlich aber zu einem unverhofft glücklichen Ende führte. Lange dreh(t)e ich mich dabei im Kreis um die immer gleichen Argumente, wälz(t)e Buch um Buch, Gedanke um Gedanke, bis ich, des belastenden Gros materialisierten Nachdenkens in einer kamikazeartigen Übersprungshandlung mich entledigend, mit einem äußerst eingedampften Kleinklein zu leben lerne.
23. August 2014
Auf der Kippe
Dieser Tage, während ein kurzer, zuletzt immer kühlerer Sommer sogleich fast unmerklich in den Herbst hinübergleitet und mir morgens, wenn ich kurz nach sieben das Haus verlasse, auf dem Weg zur Kita, auf dem Rad von Mitte nach Schöneberg oder nach Dahlem ein frischer Gegenwind als Vorbote kürzerer Tage entgegenweht, schlägt die Melancholie, meine janusköpfige Begleiterin, mit voller Breitseite zu. Vieles, denke ich so bei mir, schon längst vorüber, die rauschendsten Feste gefeiert, allzu wenig noch übrig von den einmaligen Erlebnissen, die eine (späte) Jugend so bietet. Inzwischen nämlich nahezu alle Jungfernfahrten erlebt und abgehakt: leidenschaftliche Lieben, (nächtliche) Exzesse, Tiefpunkte, Krisen, Bildungsabschlüsse, Berufstätigkeit, Familiengründung: alles bereits zum ersten Mal (meist zur Genüge) getan und gehörig Pulver dabei verschossen. Permanente Abwechslung, Haltlosigkeit, ebenso das Gefühl, stets auf dem Sprung zu sein, nun täglichen Routinen gewichen, die alles auch dann noch funktionsfähig zusammenhalten, wenn es innen drin heftig zu wanken beginnt und der alte Schlund sich öffnet.
Auch die tägliche Gewissheit eines allmählichen Verfalls des Äußeren beim spitzfindigen Blick in den Spiegel momentan eher schwer zu ertragen. Besonders beim Gedanken, den Zenit der eigenen Attraktivität – wie überhaupt: den Höhepunkt des Erlebbaren – schon überschritten zu haben und mich gefragt, was neben der passionierten Ausübung eines Berufs jenseits des 30. Lebensjahres an deren Stelle treten könnte. Der Genuss am mit den Jahren sicher größer werdenden finanziellen Spielraum in Hinblick auf den Verlust der Spontaneität und Intensität der früheren Jahre hingegen schon immer ein eher schwacher Trost. Dabei eine immer tiefer wuchernde Zornesfalte zwischen den Augenbrauen neu entdeckt und seitdem immer wieder verflucht und inbrünstig hassen gelernt, dieses Kainsmahl mimischer Ausschweifung.
Demgegenüber wird das aufkeimende Hadern mit dem Lauf der Dinge einzig durch die hinzugewonnene Solidität des eigenen Standpunkts mit ihrer Unangewiesenheit auf allerhand Vorgelebtes, an dem man sich zu orientieren hätte, durch eine wachsende Souveränität durchkreuzt, an die noch in den kürzlich verabschiedeten Zwanzigern nicht zu denken war. Im gleichen Atemzug die Fähigkeit angeeignet, die gefühlt immer schneller davonlaufende Lebenszeit – das möbiusbandartige intellektuelle Kaprizieren auf diese unabwendbaren Tatsachen davon einmal ausgenommen – schätzen zu lernen, und Nebensächlichkeiten und Animositäten angesichts der Kostbarkeit der Tage darin insgesamt weniger Stellenwert einzuräumen. Stets mutig sein und würdig altern, müsste man, plätschern die Gedanken so vor sich hin, während ich, das Gesicht dem Fahrtwind ausgesetzt, den Kragen noch etwas höher schlage, denn heute morgen liegt bereits ein erster Hauch von herannahendem Winter in der Luft.
15. August 2014
Nonum prematur in annum (ma querelle des Anciens et des Moderne)
Die Sinne zu stimulieren und zu sensibilisieren für die Erhabenheit der antiken Literatur, eine ästhetische Differenzerfahrung spürbar zu machen, auch dies Kerngeschäft des altsprachlichen Unterrichts. Und mal ehrlich, wie viele Welten liegen zwischen der geschmeidigen Eleganz eines Ciceros oder eines Vergilianischen Einbruches der Nacht – nox ruit et fuscis tellurem amplectitur alis (unsauber: Nacht stürzt herein und umfasst die Erde mit ihren dunklen Schwingen) – und den zahlreichen Belanglosigkeiten, die von der gegenwärtigen Literatur, zumal ohne Kenntnis, ohne (souveränes) Beherrschen eines Handwerkes, einer Technik, eines Stils, aufgefahren werden (besonders gruselt mich die Digital-Bohémiens-produzieren-große-Literatur-Sparte). Die in ihrer Beiläufigkeit, während sie sich nebenbei noch schnell eine Wurstbemme geschmiert hat und nun pausbäckig-schmatzend vor sich hin fabuliert, eines Gespürs für die Höhe des Gegenstandes oder seiner sprachlichen Vermittlung ermangelt. Nur am Rande zuständig fühlt sie sich für die Erbauung, gar Erhöhung, ihres Lesers (na gut: Kalauerei und Klamauk mal ausgenommen!), nicht dem minutiösen Dokumentieren, der Konfrontation mit dem Unerhörten, des Zelebrierens der Existenz noch einem wie auch immer gearteten (ästhetischen) Programm sich verpflichtet.
12. August 2014
Hebt die Gläser auf John Keating!
O Captain my Captain! our fearful trip is done; The ship has weather’d every rack, the prize we sought is won; The port is near, the bells I hear, the people all exulting, While follow eyes the steady keel, the vessel grim and daring:
- But O heart! heart! heart!
- O the bleeding drops of red,
- Where on the deck my Captain lies,
- Fallen cold and dead.
- Here Captain! dear father!
- This arm beneath your head;
- It is some dream that on the deck,
- You’ve fallen cold and dead.
- You’ve fallen cold and dead.
- Exult, O shores, and ring, O bells!
- But I, with mournful tread,
- Walk the deck my Captain lies,
- Fallen cold and dead.
- Walt Whitman
11. August 2014
Unter der Oberfläche
Neulich saßen der M., ein treuer Begleiter aus meinem ersten akademischen Leben, und ich in einer lauen Sommernacht auf seinem kleinen, aber minder feinen Balkon mit Blick auf die Yorckstraße. Das letzte Sonnenlicht über der Stadt fast verglommen, die Nacht zwischen den verwischten Hufschlägen von Phoebus' Feuerrössern beinahe eingebrochen am Horizont, sprach er, orchestriert von dem dramatischen Leuchten, so luzide und bewegend über eine unglückliche Liebe, dass mir ein Bild ganz besonders in Erinnerung blieb. Sie, jene Geliebte, hätte für ihn vor allem deswegen eine derart begehrenswerte Ausstrahlung gehabt, der er unverzüglich verfallen war und die ihn schließlich um den Verstand brachte, weil ihre gesamte Erscheinung eine Emotionalität durchscheinnen ließ, die nur unter einer hauchdünnen Oberfläche verborgen lag. Dann – und in meiner Vorstellung – unvermeidlich auf ihn übergriff, ihn in Brand setzte, auflodern und verbrennen ließ...Das fand ich auf eine ziemlich verwegene Art und angestachelt von diesem Sommernachtsrausch, der vom Berliner Asphalt in die Lüfte dampft, dann doch ziemlich romantisch.
10. August 2014
Seifenblasen über Prenzlauer Berg
Vielleicht sind wir uns – vor allem, wenn Sie Spielplätze im zentralen Osten der Stadt zwar nicht zu Ihren favorisierten, aber häufig angesteuerten Aufenthaltsorten zählen – schon einmal begegnet; Sie haben mich kritisch aus dem Augenwinkel gemustert und sich gedacht: Oha! Unter einem makellos gespannten Himmelblau springe ich, das Sommerkleid lässig oberhalb der Taille gegürtet und mit immer leicht lädierten, dafür sonnengebräunten Knien, an guten Tagen von mannshohen Gerüsten, schlage im Buddelsand ein Rad oder schaukle bis zu dem Punkt, an dem sofortiger Überschlag droht, die Region rund um den Magen aber am meisten in Wallung gerät. Wenngleich mein Kind beherzt zu den Förmchen Ihres Sprosses griff und sie mit einem resoluten "Meine, meine!" und kleinen Schubsern lange zu verteidigen wusste oder ich, wie Sie meinen, die Schaukel ewig blockierte, um dann Ihrem Goldstück mit einem großen Satz artistisch vor die Füße zu springen, schenken Sie mir vielleicht kurz bevor Sie den Vorhof zur Hölle verlassen, doch noch schnell Ihr mildestes Lächeln!? Wenn ich nämlich derweil die großen Seifenblasen aus dem Jutebeutel gezaubert habe und ich, eine fürstliche Rattenfängerin, Ihre Kinder bereits in meinen Bann gezogen habe und sie sich nun, wie an der Kasse im Supermarkt brav hintereinander aufgereiht, nacheinander an den magischen Gerätschaften erproben dürfen, ja dann, entspannen Sie einfach noch zehn, fünfzehn Minuten! Atmen Sie durch, wählen Sie ein schattiges Plätzchen unter der riesigen Kastanie dort, wo immer ein zartes Lüftchen geht, und lesen Sie endlich Ihre Süddeutsche vom Wochenende, die Monopol 07/2014 oder den Stanišić, den Sie doch nach der letzten Buchmesse so unbedingt lesen wollten, weil Dennis Scheck und Max Moor Ihnen dessen Lektüre mit rührender Inbrunst so dringlich ans Herz gelegt hatten.
9. August 2014
Transzendenz
"Und wo bleibt da in deinem Leben die Transzendenz?", hatte der Ch. mich neulich nach dem Abendessen bei ihm zu Hause scharf zurechtgewiesen, nachdem ich sein nächtliches Bekenntnis zum Göttlichen, während der S. ihm argumentativ nicht von der Seite wich, mit dem ein oder anderen flapsigen Kommentar gewürdigt hatte. Der Ch. versteht sich nämlich ausdrücklich nicht als ein Anhänger einer Konfession, hält ein Leben ohne ein übergeordnetes Prinzip aber schlichtweg für allzu trostlos.
Wie also leben ohne diese Vorstellung? Als Relativistin, Skeptikerin? Schon manches Mal nächtens wachgelegen und oft diese Angst verspürt, die an der Wurzel der Existenz rührt. Schmerzlich immer wieder konfrontiert mit dem Blick auf das unausweichliche Ende: "le repos entier est la mort". Empfänglich für letzte Fragen war ich immer, eines rettenden Gottesbeweises entbehre ich allerdings bis heute, wahrscheinlich für immer. Der Mensch – ach, Pascal! – nur ein fragiles Schilfrohr, das denkt: "L'homme n'est qu'un roseau, le plus faible de la nature; mais c'est un roseau pensant. Il ne faut pas que l'univers entier s'arme pour l'écraser: une vapeur, une goutte d'eau, suffit pour le tuer."
So bleibt einzig abgezählte Lebenszeit und ein Drittel, vielleicht auch die Hälfte davon schon rum. Meine Mutter spricht seit ein paar Jahren (ihrem fünfzigsten Geburtstag etwa) von ihrem Lebenskalender, der Tag auf Tag weniger Blätter bereithält bis schließlich irgendwann das letzte Blatt abgerissen wird und auch mein Vater, in Bezug auf den eigenen Tod immer mit einer erstaunlichen Abgeklärtheit gesegnet, gibt zu: "Wenn es soweit ist, werde ich heulen wie ein Schlosshund."
Werde ich weinen, schreien, ruhig sein?
Vorerst nichts als leere Taschen, was die Überfahrt ins gottlose Jenseits, ins Dunkel, ins Nichts betrifft, und die Gewissheit, dass alles abgefackelt werden muss im Hier und Jetzt, bevor das Licht ausgeht. Intensität, mein Elysium! Vielleicht daher der Hang zu pathetischem Wort, zu langen Nächten, Verzweiflung, Verausgabung, Exzess. Das leise Atmen der kleinen L., der ich in der Kühle der Nacht schnell noch die Decke um die Beine schlage bis ich selbst in die Kissen falle. Die, in ruhige Träume gefallen, noch nichts ahnt von Ausgeliefertsein und Sterben.
8. August 2014
Selbstbetrachtungen: Meine Gretchenfrage
In meinen mittleren Zwanzigern habe ich mich auf dem Umweg über Foucault und Derrida zeitweilig sehr intensiv mit dem philosophischen Feminismus auseinandergesetzt, habe Beauvoir, Cixous, Irigaray und Butler gelesen. Stets kreisten meine Gedanken dabei um Fragen von Identität und Differenz, um die Beschaffenheit symbolischer (mythischer) Ordnungen in Hinblick auf Geschlechtsdiskurse und -praktiken, die genuine Kulturbezogenheit und Historizität von sozialen Rollen und Körperlichkeit sowie ihre Verschleierung, Zurichtung und Naturalisierung – die Frankfurter Schule und auch Jelinek lässt grüßen – durch Politik, Wissenschaft, Massenmedien und Werbung. Abseits dieser Kopfgeburten unter akademischer Federführung gestaltete sich mein praktisches Engagement zugegeben eher mager, beschränkte sich meist nur auf das (manchmal kopfschüttelnde Verfolgen) von aktuellen Debatten in Feuilleton, Bundestag, im Rundfunk und Fernsehen; zumindest von dieser Pflicht, mich thematisch up to date zu halten, wollte ich mich dann nicht auch noch entbinden. Nie jedoch unterschrieb ich auch nur irgendeine Petition, besuchte ich Demonstrationen, die für Frauenrechte mobil machten, gesellschaftlichen Sexismus monierten oder für die Gleichstellung der Geschlechter eintraten. Auch heute findet meine Auseinandersetzung mit feministischen Themen in schmalem Radius statt, dreht sich im allerkleinsten Kreise in beflissenen und klugen Gesprächen (mit regem Büchertausch) mit der V. und der E.; vollzieht sich auch im Austausch mit vielen mir bekannten und befreundeten Herren, die sich hierin oft sehr offen und kritisch zeigen und die mit ihren Perspektiven meine Denkweisen allzu oft bereichert haben. Bis heute fühle ich mich keinem eindeutigen Lager zugehörig, bin am Ende vielleicht mehr von einem phänomenologischen Interesse an den gesellschaftlichen Zuständen geleitet und als wirklich betroffen von Unterdrückung und Diskriminierung, diese Peripherie meiner subjektiven Wahrnehmung; zumal in einer Familie von Frauen (Großmüttern, (Schwieger-)müttern, Tanten, Cousinen) situiert, die ich immer als nicht nur ökonomisch selbstbestimmt, lebensklug und pragmatisch erlebt habe, zudem von früher Kindheit an – im unreflektierten Sprech – eher am männlichen Tugendkatalog, zumindest jener im Alltagsdiskurs verwurzelten gesellschaftlichen Konstruktion dessen, geeicht: selbst wettkampforientiert, kämpferisch, aktiv erzogen, als Mutter einer Tochter vielleicht auch ähnlich erziehend?
Seit einiger Zeit aber fällt mir etwas auf an den Gesprächen, die ich besonders mit mir lang bekannten Männerfreunden führe. Schwierig die gemachten Beobachtungen auf den Punkt zu bringen: Eine Art verschmitzter Zug, der sich um Mundwinkel und Stirn des Gegenübers legt, wenn die besagten Themen angeschlagen werden. Ein amüsiertes Abwinken, sobald das Gespräch meine Erfahrungswelt berührt. Und wie aus der Pistole geschossen: die Revision der Notwendigkeit einer feministisch orientierten Lebensform in meinem Falle, wenn das begrifflich trifft. Im Hintergrund – das sagt mein neuerlich aus dem Dornröschenschlaf erwachter Seismograph – jene subtilen Schwingungen: die Vorstellung vom Feminismus als einer Art Wappenschild für eine Gruppe Bemitleidenswerter und (zurecht) Ausgegrenzter, die das nötig haben, sich mit Frauenquote, Sonderantrag und Gruppenstricken an den Qualifizierten vorbeizumogeln oder dem Patriachat für lang erlittenes Unrecht endlich mal straffrei den Stinkefinger zeigen zu können – beleidigte Leberwürste, mardy bums. Ganz und gar unnötig, nahezu widersinnig, so das Urteil, sei das, mich auf so etwas zu berufen, das vor allem Frauen gebührte, die weder auf der Skala der Klugheit, des Charmes, der Tatkraft noch auf jener der Attraktivität mithalten könnten. Weibliche Wesen, die schon immer irgendwie den Kürzeren gezogen hätten. Und mit diesen, mit Verlaub, wäre ich ja nun wirklich in keiner Beziehung zu vergleichen.
7. August 2014
Selbstbetrachtungen: Über das Durchatmen
Von meinen Mitmenschen immer wieder mit der gleichen umsorgenden Geste bedacht: Kaum steige ich etwas verschwitzt vom Fahrrad, bin ich schnellen Schrittes irgendwo angelangt, auf den letzten Metern mit der schweren Tasche voll Cicero, Vergil, dem Burkhard/Schauer und dem alten Menge vielleicht auch etwas gesprintet, falls die Zeit mir davonlief, konfrontiert mit der Bitte, doch erst einmal Platz zu nehmen und etwas durchzuatmen. Nie verstanden, dieses gezwungene Einhaltgebieten der Kräfte. In meiner Vorstellung ganz und gar unnötig, als bedurften Geist und Körper eingehender Schonung, nur weil sie ein wenig in (sowieso) gewohnter Bewegung waren. Ohne Verzögerung könnte es indes, und wenn es nach mir ginge, weitergehen. Schon immer zu lebendig für das: Hinsetzen und zur Ruhe kommen, um nach Minuten des verschnaufenden Schweigens bedächtig ein paar unbedeutende Sätze aus dem Ärmel zu schütteln. Mein Wesen, dieser überbordende Zug meines Charakters, beizeiten der Mitwelt sicher etwas grotesk anmutend, bisweilen ein strapaziöses Unterfangen für zurückhaltend oder gar gemütliche Geister, macht mir da schon immer irgendwie einen Strich durch die Rechnung. Dieses permanente Dauerfeuer an Worten, Gesten und Bewegung — nicht umsonst wurde mir schon in den ersten Semestern des ersten Studiums, wie ich erst Jahre später und eher etwas zufällig erfuhr, der Beiname Maschinengewehr zu eigen, der hinter meinem Rücken kursierte, aber, wie man mir beteuerte, äußerst liebevoll mir zugedacht war —vielleicht der Grund für die Bitte: Dem Gegenüber die Möglichkeit einzuräumen, etwas durchzuatmen im Angesicht dieser wuchtbrummenhaften Dauerpräsenz. Im Bezug auf mein künftiges Studienratsdasein immerhin bedenkenswert. Gemeinschaftliche Übereinkunft der Kommilitionen im Rahmen eines erziehungswissenschaftlichen Coachings: "das könnte aus Sicht des Schülers gerade in der ersten Stunde montags oder in der achten in Latein ziemlich anstrengend werden, sein Dasein im kontinuierlichen Standby zu fristen, um jederzeit ansprechbar zu sein." Immerhin keine Befürchtungen, nicht in den hinterletzten Winkel des Raumes zu reichen, bis hierin auszustrahlen mit mentaler und leiblicher Agilität. Jetzt nur noch irgendwie lernen, dem Gegenüber mehr Verschnaufspausen zu gönnen: ganz oben auf der Agenda!
11. Januar 2014
Dauerstrom ( I ♥ it, but it's killing me...)
Ab Oktober dann neigt sich der intellektuelle
Leerlauf, den die Elternzeit mit sich brachte – und wie
ich im rückblickendem Vergleich inzwischen guten Gewissens behaupten kann:
endlich – dem Ende zu und die Kleine geht, mancherorts
kritisch beäugt, mit zarten neun Monaten in die Kita. Zuerst weint sie dort
viel, schläft erst nach zweieinhalb Wochen das erste Mal dort zu Mittag, davor
nur halbe Tage Aufenthalt. An jenen Tagen quält mich meine gewohnte Ungeduld,
erwäge ich Szenarien des Scheiterns dieser Eingewöhnungsnummer, um sie kurz
danach wieder zu verwerfen. Das muss klappen, es gibt keine Alternative
beschwöre ich mich. Indes studiere ich exklusive nächtlicher
Vokabellernsessions in Altgriechisch und Latein, wenn die Kleine schläft,
wieder Vollzeit; arbeite insgesamt konstant über der 50-Stunden-Marke, während
M. eine 12-Stunden-Nachtschicht nach der anderen abreißt, damit die
Staffelstabübergabe täglich glückt. Auch mit Omis und Opis stehen wir im engen
organisatorischen Bunde; allesamt ostdeutsch sozialisiert, daher keinerlei
Irritation über den Wunsch, wieder mit anderen Dingen betraut zu sein als der
Kindesversorgung, ihnen ging es da vor drei Jahrzehnten auch nicht anders.
Einziger Wermutstropfen: sie selbst haben alle noch mindestens 10 Jahre
Berufsleben vor sich, sonst lägen die Dinge wahrlich noch unkomplizierter.
Antiproportional zu meinen Augenringen wächst
wöchentlich die Begeisterung, dass das Hirn endlich wieder Fahrt aufnehmen
darf. Am Anfang sind meine Hypotaxen zwar wie üblich philosophisch
angereichert, aber irgendwie holprig, fragmentarisch, breiig. Von Woche zu
Woche und mit steigendem (Arbeits-)Pensum werde ich produktiver, werden
Gedankengänge luzider, Argumentationen sicherer und zunehmend subtiler. Ich
mache Fortschritte bei der Lektüre altsprachlicher Originaltexte, lerne 600
Vokabeln seit Mitte Oktober, verinnerliche Phänomene lateinischer Syntax und
Stilistik. Die Welt der Antike öffnet sich meinem ungestillten
Wissensdurst. Es ist ein Zustand aufmerksamer Spannung. Wie ein römisches
Heer in Schlachtordnung — agmen et stare paratum et
sequi, nec turba, nec sarcinis praegrave, intentum ad ducis non signum modo,
sed etiam nutum... Ein Zustand gesteigerter Wachheit ganz gleich wie kurz die
Nächte sind. So fit habe ich mich lange nicht mehr gefühlt. Was meine
Universalthese stützt, dass mehr Bewegung im Alltagsleben mit quasi-kausaler Zwangsläufigkeit
auch eine Steigerung von Kraft, Konzentration und Ausdauer impliziert.
Trainingseffekte des (sich) regen(den) Geistes, auf den Körper konnte ich mich
da schon immer besser verlassen. In meinen Vorstellungen wechseln sich Bilder
von mir vor einer 30-köpfigen Klasse über den Unterschied von Gerundivum und
Gerundium, den Gebrauch von Irrealis, Potentiales, Hortativ und Prohibitiv
fabulierend mit jenen ab, die mich vor dem Hintergrund eines Lehrergehaltes
durch die Welt reisend zeichnen: Island, Kanada, Südafrika, Réunion,
Neuseeland; Rocky Mountains, Anden, Himalaya (jeweils nach Sehnsucht geordnet).
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