Sternstunden im deutschen TV. Kurz nach
Mitternacht. Reinhold Messner beim bundesrepublikanischen Traumschwiegersohn zu
Gast. Ich überlege kurz wegzuschalten. Von minutiöser philologischer Arbeit
gänzlich ermattet, beugen sich prompt alle inneren Widerstände dem Versprechen
vermeintlich seichtester Unterhaltung. Jene, die mich lange kennen, wissen
zudem von meiner Schwäche für Extremsportler (Huber-Brüder, Baumgartner,
McNamara), schrullige Intellektuelle und traumwandlerische Musiker,
Komponisten, Kunstschaffende im Allgemeinen.
Aller Anfangsskepsis zum Trotz schreitet das
Gespräch fruchtbar fort, beginnt vor dem Hintergrund der luziden Schilderungen physischer und
psychischer Grenzerfahrungen des 68-jährigen Bergsteigers, der mich schon als
Kind, vermutlich wegen seiner Frisur, an eine ältere Version meines eigenen Vater
erinnerte, um die großen existentiellen Fragen zu kreisen: Balanceakte über
Abgründen und das Genie des Wegsuchens, Haben und Sein, Sinnhaftigkeit und
Zweck, Abenteuer, Herausforderung und Überwindung, Intensität und
Selbsterhaltung.
Mein Zuschreibungsapparat funktioniert trotz der
fortgeschrittenen Tageszeit noch ausgezeichnet, das beweisen jene wilden
Assoziationsketten, die mein Hirn Messners Antworten kommentierend angedeihen lässt. Immer wieder rumort es im Hinterstübchen: Nietzsche, Nietzsche,
Nietzsche (Und wer über sich hinaus
schaffen will, der hat mir den reinsten Willen, Za II, KSA 4, S. 157)...und
ein wenig Bataille natürlich. Bergsteigen als riskantes Aussetzen des Lebens
"an den Rand der Möglichkeiten", um es mit gesteigerter Empfindung
wiederzuerlangen. Das bewusste Sich-Begeben in das nicht länger Kalkulierbare
verstehe nicht nur ich, so wird es im Laufe von Messners Ausführungen immer
deutlicher, als Affront gegen bürgerlichen Mäßigungswahn und
Optimierungslogiken sondern als (ästhetisches) Konzept der Verausgabung und Selbstüberschreitung,
auch wenn er die gedankliche Essenz auf eine andere Sprache stützt als ich,
andere Worte für dasjenige findet, das auch ich zu meinen glaube: "Ich
will, dass sich junge Menschen ausdrücken...die Arbeit ist sekundär, sich
ausdrücken ist viel wichtiger. Seinen Weg finden ist die Kunst...Und diese
Fähigkeit, etwas ganz zu machen, bis zur letzten Konsequenz zu machen, habe ich
auch beim Bergsteigen gelernt und nicht in der Schule.“
Als ich nach dem einstündigen Interview angeregt, inzwischen aber mit einer
gewissen Bettschwere ausgestattet, ins Schlafzimmer wanke, bin ich innerlich
von den mitgeteilten Erfahrungen noch derart bewegt, dass ich M., der mal
wieder Nachtschicht schiebt, noch schnell eine SMS schreibe: "Gerade ein
äußerst beeindruckendes Interview von Reinhold Messner gesehen und seitdem
überlegt, ob Nietzsche sich seinen Übermenschen in etwa so vorgestellt haben
könnte..." Eine morgendliche Lektüre des Zarathustra bestätigt meinen Eindruck:
Zarathustra aber sahe das Volk an und wunderte sich. Dann sprach er also:
Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, — ein Seil über einem Abgrunde.
Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben.
Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist.
Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden.